4. Michel Foucault und die französische Gefangenenbewegung:

Foucault hat sich bis in die 60er Jahre nur wenig öffentlich politisch engagiert. Wie
viele junge Intellektuelle von der École Normale ist er für kurze Zeit Mitglied in der
Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF). Bald wendet er sich jedoch wieder von ihr
ab, weil er die "Kommunistologie" der Partei ablehnt, die bestimmt, wie man Marx zu
verwenden hat, um als Marxist zu gelten (vgl. MdM 46, DdM 22). Somit zielt Foucaults
Polemik eher auf die "Ideologie der französischen kommunistischen Partei" als auf Marx
und dessen Theorie. Bereits in Wahnsinn und Gesellschaft und in Die Geburt der Klinik
geht es um die politische Funktionsweise von Wissen. Die Ereignisse des Mai 1968 spie-
len eine bedeutende Rolle für seine stärkere Repolitisierung (vgl. MdM 107, SdW 110f,
DdM 24, DdM 31).

 


Michel Foucault mit Jean-Paul Satre bei einer Demonstration 1972

Am 9. Februar 1971 gründet Michel Foucault zusammen mit anderen intellektuellen
Aktivisten - wie z. B. Daniel Defert, Jean-Marie Domenach und Pierre Vidal-Naquet - die
Gruppe "Gefängnis-Information" (Groupe dŽinformation sur les prisons, G.I.P.), welche
die Zustände in französischen Gefängnissen aufklären und öffentlich zur Sprache kommen
lassen will (vgl. MdM 9). Viele aus der Gruppe und in den Gefängnissen waren Maoisten
und militante Linke. Seit November 1971 kommt es zu ersten Revolten. Das Ney-Ge-
fängnis in Toul wird im Dezember darauf in Brand gesteckt und von der Polizei ge-
stürmt. Die Gefängnispsychiaterin Edith Rose hält eine Rede und verfaßt einen Bericht
an das Justizministerium. Auch Foucault hält dort eine Rede, in der er sich auf Rose be-
zieht und fragt:

 

Was hat sie gesagt? Viele Dinge, die man ahnte und jetzt weiß: daß Menschen
tagelang an Füßen und Fäusten ans Bett gefesselt werden; daß es beinahe jede
Nacht Selbstmordversuche gibt; daß zwischen Strafen und Beruhigungsmitteln,
Züchtigungen und Injektionen regelmäßig abgewechselt wird [...]; daß Autodie-
be in lebenslängliche Delinquenten umgewandelt werden.[...] [W]as kommt da
ans Tageslicht? Die Böswilligkeit des einen oder die Unregelmäßigkeit des an-
deren? Kaum. Sondern die Gewaltsamkeit der Machtverhältnisse. Die Gesell-
schaft tut alles, um die Blicke aller von allen Ereignissen abzulenken, welche
die wahren Machtverhältnisse verraten (MdM 28f).


Michel Foucault bei einer Demonstration
von Einwanderern im Jahr 1973

Foucault will die "strategischen Verknüpfungen", die unausgesprochen Diskurse und
"Listen", die man keiner Person zuordnen kann, "die aber gelebt werden und die Institu-
tion in Gang halten" (MdM 32) sammeln und wieder sichtbar machen. Keiner soll mehr
von dem Wissen darüber ausgeschlossen werden. In der Broschürensammlung der G.I.P.
Intolérable finden sich schon die Themen, die ihn kurz danach beschäftigen werden: Er-
zeugung von Delinquenten durch das Gefängnis, die Verwaltung von Gesetzwidrigkeiten,
die Zugehörigkeit des Gefängnisses zu einem Strafsystem, das in seiner Gesamtheit unter-
sucht werden muß. Aus dieser Arbeit entsteht sein Buch Überwachen und Strafen. Die
Geburt des Gefängnisses (1975, dt. 1977).

 

Am 1. Mai 1971 wird der Professor am Collège de France bei einer Demonstration von
der Polizei verhaftet. Darauf erstattet er Anzeige gegen die Polizisten wegen illegaler Fest-
nahme und leichter Körperverletzung. Der Arzt Bernard Kouchner nennt ihn ein "Mann
der Tat", einen "Samurai". Auch noch lange Zeit danach hält Foucault nur "punktuelle,
militante und beinahe militärische Aktivitäten für glaubwürdig", denn er bleibt "der Mili-
tante der Straße".

 

Die Gefangenen bilden dagegen ihre eigene Organisation, das "Aktionskomitee der Ge-
fangenen". Sprecher der Gruppe ist Serge Livrozet, der sich gegen eine Vereinnahmung
der Gefangenen durch die Intellektuellen wehrt: "Die Spezialisten der Analyse gehen uns
auf die Nerven, ich brauche niemanden, um das Wort zu ergreifen und zu erklären, wer
ich bin." Auch Foucault kommt bald zu der Einsicht, "daß die Massen [die Intellektuel-
len] gar nicht brauchen, um verstehen zu können; sie haben ein vollkommenes, klares und
viel besseres Wissen als die Intellektuellen" (SdW 130). Statt eines Intellektuellen als be-
wußtseinsbildende Instanz bevorzugt Foucault den spezifischen Intellektuellen, der die
Wahrheit praktiziert und als "Wissensbeschaffer" denen zur Sprache verhilft, welchen die
Rede verweigert wird. Er wünscht sich zudem eine strikte Trennung zwischen seiner
theoretischen Arbeit und seinem praktischen Engagement für die G.I.P. (PMa 397).

 

Obwohl es z. B. an Pädagogischen Hochschulen oder während der Hospitationen künf-
tiger Anstaltsleiter Referate zu Überwachen und Strafen gibt und es in den Jahren 1976
bis 1979 zu regelrechten "Betäubungseffekten" bei Erziehern und Gefängnispsychologen
kommt, sieht Foucault seine praktischen Bemühungen eher negativ. Im Dezember 1972
löst sich die G.I.P. schließlich auf. Er hat das Gefühl, daß die Aktionen zu nichts geführt
haben.

 

Das heißt allerdings nicht, daß er sein politisches Engagement nun völlig einstellt. Er
ergreift Partei für die iranisch-fundamentalistische Revolution gegen den Schah, zeigt
sich solidarisch mit Franco-Gegnern in Spanien, den "Black Panthers" in den USA und der
Solidarnosc-Bewegung in Polen. Foucault demonstriert mit Jean-Paul Sartre und Jean
Genet für die Rechte von Einwanderern und gegen Rassismus. Er bekennt sich außerdem
vorbehaltlos zur Frauen- und Homosexuellen-Bewegung und zeigt Sympathie für Anarchi-
sten und Dissidenten . Bis kurz vor seinem Tod engagiert er sich noch für die "Médecins
du monde" und die Belange der vietnamesischen Boat-People. Mit dem späteren franzö-
sischen Justizminister Robert Badinter verbindet Foucault eine Freundschaft. Der soziali-
stische Minister erfüllt sein Wahlversprechen und schafft 1982 in Frankreich die Todes-
strafe ab. Foucault begrüßt das zwar, doch er läßt sich durch die Abschaffung nicht von
seiner generellen kritischen Haltung gegenüber dem Strafrechtssystem und aller Strafen
abbringen: "[E]s geht darum, daß die gesellschaftliche und moralische Unterscheidung
zwischen Unschuldigen und Schuldigen selbst in Frage gestellt wird" (SdW 120).