5. Transformationen der Strafgewalt: Von der Marter zum dressierten Körper:

Überwachen und Strafen (franz. Surveiller et punir) wird zwischen 1972 und 1974
niedergeschrieben. Das Buch gilt für den Autor selbst als "Höhepunkt seiner Laufbahn";
er nennt es "mein erstes Buch". Am Beispiel des Gefängnisses will er die "Entwicklung
einer spezifischen Machttechnik" untersuchen. Deshalb geht es ihm weniger um die "Ge-
burt des Gefängnisses" (ÜuS 296) als vielmehr um die "Entstehung der Disziplinartechno-
logie". Foucault setzt als "Prinzip der Vermenschlichung der Strafe" und der "Erkenntnis
des Menschen" (ÜuS 34) die Machttechnologie. Durch die Herausbildung des "wissen-
schaftlichen" Wissens über die Seele und dessen Einbeziehung in die juridische Praxis
kommt es zu Veränderungen in der Art und Weise, wie der "Körper von den Machtver-
hältnissen besetzt wird" (ebd.). Des weiteren zeigt Foucault die nutzbringenden "positiven
Wirkungen" (ebd.) von Strafmechanismen, die nicht bloß repressive Sanktionen, sondern
politische Taktiken sind (vgl. ebd.).

 

Am Anfang des Buches schildert er mit zwei verschiedenen Dokumenten die drastische
Veränderung der Strafpraxis. Das erste Bild stellt die grausame öffentliche Hinrichtung
des versuchten Königsmörders Damiens, der langsam gefoltert, gewürgt, gemartert und
gevierteilt wird dar (vgl. ÜuS 9-12). Das zweite authentische Dokument illustriert die vor-
bildliche Gefängnisanstalt anhand eines Modellplans für den Tagesablauf junger Strafge-
fangener (vgl. ÜuS 12-14). Foucault erklärt darauf schließlich mittels "drei[er] Figuren der
Bestrafung" oder "Machttypen", wie es zu diesen Transformationen kommen konnte.

 

5. 1. Die Marter als Rache und Zeremoniell souveräner Macht:

Die Marter ist für Foucault das Paradigma für die königliche Strafgewalt. Der Richter
und der Souverän waren die einzigen, welche die Wahrheit des Verbrechens wissen
durften (vgl. ÜuS 47). Das Gesetz repräsentierte den Willen des Souveräns, den der Straf-
täter gebrochen hatte. Letztlich hatte der Fürst oder König die alleinige Macht über die
Strafe (vgl. ÜuS 49), die er möglichst öffentlich sichtbar und grausam in einem "Theater
der Hölle" (ÜuS 61) manifestierte. Für den Souverän war der Gesetzesübertritt eine
kriegerischer Angriff auf seinen Körper, den er nicht hinnehmen konnte. Seine Antwort
mußte die Asymmetrie der Macht zwischen Verbrecher und Souverän wiederherstellen
(vgl. ÜuS 65). Der geschundene Körper des Verurteilten wurde zum sichtbaren, gebrand-
markten Zeichen souveräner Macht (vgl. ebd.). Die Hinrichtung war ein ungleicher
"Kampf und Sieg" (ÜuS 67) des Souveräns, der in der rituellen Zergliederung des feind-
lichen Körpers seine Übermacht demonstrierte.

 

Von den geheimgehaltenen Verfahren, die der Beweisführung dienen sollten, erfuhr der
Beschuldigte selbst nichts, denn er war von ihnen gänzlich ausgeschlossen. Da das Recht
aber ein Geständnis verlangte, mußte es vom Verdächtigen erzwungen werden (vgl. ÜuS
51- 53). Die Marter war ein kontrolliertes und maßvolles (vgl. ÜuS 54) Mittel, um durch
körperliche Schmerzzufügung ein Geständnis zu erpressen. Die körperliche Marter kom-
binierte (souveräne Über-)Macht und Wahrheit, d. h. Geständnis (vgl. ÜuS 86).

 

Gleichwohl war die souveräne Macht darauf angewiesen, daß jeder Beteiligte seine
Rolle in diesem Schauspiel gut spielte. Das war allerdings nicht immer der Fall: In der
Zuschauermenge konnte es zu Aufruhr kommen (vgl. ÜuS 79f), wenn der Verbrecher
beim Publikum Mitleid erregte oder man sich mit ihm identifizierte (vgl. ÜuS 87). Umge-
kehrt konnte der Straftäter, der nichts mehr zu verlieren hatte, das Schuldeingeständnis
verweigern und plötzlich seine Unschuld beteuern (vgl. ÜuS 79). "Der Ort der Macht
konnte leicht zum Ort der Unruhe, ja Revolte werden."

 

5. 2. Die humanistische Reform zur Erziehung und Besserung der Seele:

Die Reformjuristen kritisierten die Grausamkeit und Willkür der absolutistischen Straf-
macht und forderten eine Humanisierung der Bestrafung. Der vormalige Verbrecher wur-
de nun zum "Menschen", dessen "menschliche Natur" (ÜuS 94) respektiert werden mußte.
Sie wurde gleichsam zum "Maß der Macht", es entsteht die "Milde" (ÜuS 95). Die Strafen
sollten dem Verbrechen angemessen, maßvoller, transparenter sein (vgl. ÜuS 93) und auf
die "Menschlichkeit" jedes Subjekts abzielen. Die "Humanität" wurde gleichzeitig auch
dazu eingesetzt, die Macht des Souveräns und die Gesetzwidrigkeiten des Volkes einzu-
schränken (vgl. ÜuS 113).

 

Man forderte eine "besser[e]", universellere, "regelmäßigere und die gesamte Gesell-
schaft erfassende Funktion" (ÜuS 104) der Bestrafung. Nicht der Souverän, der auf Rache
am Verbrecher drängte, weil seine Überlegenheit verletzt war (vgl. MdM 41), sondern die
demokratische Gesamtgesellschaft mußte sich vor ihm schützen. Als theoretische Recht-
fertigung diente dazu der Gesellschaftsvertrag: Die freien Individuen schlossen sich kraft
eines vertraglichen Abkommens zu einem Gesellschaftskörper zusammen. Die Strafe
wurde dadurch zur gesellschaftlichen Verpflichtung. Den moralphilosophischen Reform-
vorschlägen unterstellt Foucault "ein machttechnisches Kalkül [...], das die Einschrän-
kung richterlicher Willkür des Monarchen und die Verfeinerung der Instrumente sozialer
Kontrolle zum Ziel" hatte.

 

Da der Straftäter wieder nützlich für die Gesellschaft werden sollte, intendierte man
eine Besserung des Subjekts. Die "Kunst" oder "Technologie der Vorstellung" (ÜuS 133)
als Besserungstechnik zielte auf die "Manipulation des Individuums" (ÜuS 166), um es
als Rechtssubjekt wieder zu integrieren. Der arbeitende und mit Techniken ausgestattete
Homo oeconomicus sollte wiederhergestellt werden (vgl. ÜuS 158). Die Strafe, welche
dauerhafte und einfach zu lesende Zeichen formt, erneuerte solchermaßen die "Ökonomie
der Interessen und die Dynamik der Leidenschaften" (ÜuS 137). Die Zunahme der Eigen-
tumsdelikte diente dazu, die Ausweitung des Polizei- und Justizapparates zu rechtfertigen.
Die Polizei hatte mehr Machtmittel als die lückenhafte und unökonomische Gewalt des
Absolutismus.

 

Die Gesetzesbücher des 18. Jahrhunderts schafften nun genaue Klassifikationen der
unterschiedlichen Verbrechen, die Täter wurden individuell verschieden behandelt. Es
kam zu einer Individualisierung der Strafen sowie zur Objektivierung der Verbrechen und
der Straftäter (d. h. er wurde als Individuum fixiert und durch präzises Wissen vergleich-
bar gemacht). Es kam zur Ausbreitung der Humanwissenschaften, die das "Wissen" über
das Individuum und die Gesellschaft herstellen sollten.

 

Die Reformer wollten in erster Linie auf die Seelen einwirken, der Körper spielte eine
untergeordnete Rolle: "Zweck der Bestrafung war [...] die Umerziehung der Seelen und
die Moralisierung der Gesellschaft." Zu dieser Zeit wendete man noch nicht das Ein-
sperren als Hauptbestrafungsform an (vgl. ÜuS 147f). Die Verbrecher sollten nutzbringend
und als sichtbares Zeichen öffentliche Arbeiten verrichten. Sie belehrten durch die De-
monstration ihres Handelns die Gesellschaft. "[D]as juridische Subjekt verkündete seine
moralische Lektion durch die Zeichen, die im gesamten Land vorzuführen ihn die Gesell-
schaft zwang." Erstes Ziel der Öffentlichkeit der Bestrafung war nicht die Verbreitung
einer Schreckenswirkung durch physische Grausamkeit, die Öffentlichkeit sollte "ein
Buch aufschlagen, das zu lesen" (ÜuS 142) war.

 

 

5. 3. Die Einsperrung:

Die Reformer kamen noch nicht auf den Gedanken, daß das Gefängnis - wie gegen-
wärtig - den gesamten Strafbereich abdecken könnte (vgl. ÜuS 148). Das unvermittelte
(vgl. ÜuS 150) Auftauchen des Gefängnisses hatte allerdings schon Vorläufer im 18. Jahr-
hundert. Das Zuchthaus von Gent sollte ökonomisch effizient und individuell bessernd
funktionieren. Vagabunden und Verbrecher waren gezwungen zu arbeiten, um für ihre
eigene Erziehung zu bezahlen. Das machte die teueren Haftanstalten rentabel und die
neuen Arbeiter konnten nutzbringend zu Produktivität und Wohlstand der Gesellschaft
beitragen. Den Müßiggängern wollte man die Maxime oktroyieren: "wer leben will, muß
arbeiten" (ÜuS 157). Durch die "Verpflichtung zur Arbeit" (ÜuS 157) sowie der Pädagogi-
sierung des Straftäters ließen sich Wirtschaftlichkeit und Moral in der protestantischen
Gesellschaft optimal kombinieren.


Der Utilitarist Jeremy Bentham 1829

Trotz der Einwände europäischer Humanisten entstanden weitere Gefängnisse. Das
Philadelphia-Modell - des 1790 eröffneten Zuchthauses - führte Zwangsarbeit, unun-
terbrochene Beschäftigung, Refinanzierung durch Arbeit, individuelle Entlohnung, totale
Zeitplanung und pausenlose Überwachung ein (vgl. ÜuS 160). Die Bestrafung war nun
nicht mehr öffentlich, kein sichtbares Zeichen mehr, das die Gesellschaft zu lesen hatte.
Vielmehr wurde das Recht zu Strafen völlig dem Verwaltungsapparat überantwortet, der
die Bearbeitung des Häftlings "im geheimen" (ÜuS 161) hinter den Gefängnismauern
vollzog. Zur "Kontrolle und Umformung des Verhaltens" in der "Gesinnungswandel-
Maschine" (ÜuS 162) häufte man Wissen über das Individuum an. Der "Wissensapparat"
(ÜuS 164) des Gefängnisses zielte nicht mehr auf die öffentliche Vorstellung und die
pädagogische moralische Schuldanerkenntnis, sondern er plante "eine Änderung des Ver-
haltens - an Körper und Seele - durch die präzise Anwendung administrativer Techniken
von Wissen und Macht." Körper (Einzwängung des Leibs) und Seele (Dressur des Ver-
haltens) wurden zum Objekt der Strafe (vgl. ÜuS 167). Das Individuum sollte in die
Macht, der es völlig unterworfen war, "vollständig eingeschlossen" (ÜuS 168) werden,
denn nichts durfte davon in die Öffentlichkeit dringen. Körper, Zeit, Gesten, Verhaltens-
weisen und Tätigkeiten der Häftlinge wurden zum Gegenstand eines neuartigen Wissens-
systems, das den Beschuldigten wiedereingliedern sollte. Zuletzt wurde die Strafgewalt zu
einer Macht mit selbständiger Führung; sie war "vom Gesellschaftskörper ebenso isoliert
wie von der eigentlichen Gerichtsgewalt" (ÜuS 169). Die Disziplinarmacht mit ihrer
heimlichen "Ökonomie des Körpers" (ÜuS 37) und der "Seele" hatte sich sonach auch im
Strafvollzug durchgesetzt.