TEXTAUSZÜGE VON JUDITH BUTLER

Die erzwungene Materialität des ,biologischen Geschlechts´

Sprechakttheorie nach J. L. Austin

5 Punkte zur Materialität von Körpern

Das biologische Geschlecht als phantasmatisches Feld kultureller Identität

Der Prozeß der Materialisierung

Zur Neuformulierung der Performativität

Zitierte Literatur

Die erzwungene Materialität des ‚biologischen Geschlechts’

„Die Kategorie des ‚sex’ ist von Anfang an normativ; sie ist, was Foucault ein ‚regulierendes Ideal’ genannt hat. In diesem Sinne fungiert das ‚biologische Geschlecht’ demnach nicht nur als Norm, sondern ist Teil einer regulierenden Praxis, die die Körper herstellt, die sie beherrscht, das heißt, deren regulierende Kraft sich als eine produktive Macht erweist, als Macht, die von ihr kontrollierten Körper zu produzieren – sie abzugrenzen, zirkulieren zu lassen und zu differenzieren. Das ‚biologische Geschlecht’ ist demnach also ein regulierendes Ideal, dessen Materialisierung erzwungen ist, und zu dieser Materialisierung kommt es (oder kommt es nicht) infolge bestimmter, höchst regulierender Praktiken. Anders gesagt, das ‚biologische Geschlecht’ ist ein ideales Konstrukt, das mit der Zeit zwangsweise materialisiert wird. Es ist nicht eine schlichte Tatsache oder ein statischer Zustand eines Körpers, sondern ein Prozeß, bei dem regulierende Normen das ‚biologische Geschlecht’ materialisieren und diese Materialisierung durch eine erzwungene ständige Wiederholung jener Normen erzielen. Daß die ständige Wiederholung notwendig ist, zeigt, daß die Materialisierung nie ganz vollendet ist, daß die Körper sich nie völlig den Normen fügen, mit denen ihre Materialisierung erzwungen wird. Es sind sogar die durch den Prozeß hervorgebrachten Instabilitäten, die Möglichkeiten der Re-Materialisierung, die einen Bereich kennzeichnen, in dem die Kraft des regulierenden Gesetzes gegen dieses selbst gewendet werden kann, um Neuartikulationen hervorzutreiben, die die hegemoniale Kraft eben dieses Gesetzes in Frage stellen."

(Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Übers. v. Karin Wördemann. Berlin: Berlin Verlag, 1995. S. 21. Alle farblichen Hervorhebungen von mir, M. C. J.)

Sprechakttheorie nach J. L. Austin

„Um zu erkennen, was der Kraft einer Äußerung ihre Wirksamkeit und ihren performativen Charakter verleiht, muß nach J. L. Austin diese Äußerung zunächst innerhalb der ‚gesamten Sprechsituation’ verortet werden. Allerdings ist nicht leicht zu erkennen, wie diese Gesamtheit am besten abzugrenzen ist. Untersucht man Austins eigene Theorie, so zeigt sich zumindest ein Grund für diese Schwierigkeit: Austin unterscheidet nämlich zwischen ‚illokutionären’ und ‚perlokutionären’ Sprechakten. Die ersteren tun das, was sie sagen, indem sie es sagen, und zwar im gleichen Augenblick. Die zweite Kategorie umfaßt Sprechakte, die bestimmte Effekte bzw. Wirkungen als Folgeerscheinungen hervorrufen: Daraus, daß sie etwas sagen, folgt ein bestimmter Effekt. Der illokutionäre Sprechakt ist also selbst die Tat, die er hervorbringt, während der perlokutionäre Sprechakt lediglich zu bestimmt Effekten bzw. Wirkungen führt, die nicht mit dem Sprechakt selbst zusammenfallen."

(Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Übers. v. Katharina Menke u. Markus Krist. Berlin: Berlin Verlag, 1997. S. 11. Hervorhebungen von mir, M. C. J.)

5 Punkte zur Materialität von Körpern

„Das ‚biologische Geschlecht’ ist [...] nicht einfach etwas, was man hat, oder eine statistische Beschreibung dessen, was man ist: Es wird eine derjenigen Normen sein, durch die ‚man’ überhaupt erst lebensfähig wird, dasjenige, was einen Körper für ein Leben im Bereich kultureller Intelligibilität qualifiziert.

Bei einer solchen Reformulierung der Materialität von Körpern wird es um folgendes gehen:

1. Die Materie der Körper wird neu gefaßt als die Wirkung einer Machtdynamik, so daß die Materie der Körper nicht zu trennen sein wird von den regulierenden Normen, die ihre Materialisierung beherrschen, und von der Signifikation dieser materiellen Wirkungen.

2. Performativität wird nicht als der Akt verstanden, durch den ein Subjekt dem Existenz verschafft, was sie/er benennt, sondern vielmehr als jene ständig wiederholende Macht des Diskurses, diejenigen Phänomene hervorzubringen, welche sie reguliert und restringiert.

3. Das ‚biologische Geschlecht’ wird nicht mehr als ein körperlich Gegebenes ausgelegt, dem das Konstrukt des sozialen Geschlechts künstlich auferlegt wird, sondern als eine kulturelle Norm, die die Materialisierung von Körpern regiert.

4. Der Prozeß, in dem eine körperliche Norm angenommen, angeeignet oder aufgenommen wird, wird neu gedacht als etwas, was im strengen Sinne nicht von einem Subjekt durchgemacht wird, sondern als etwas, durch das das Subjekt, das sprechende ‚Ich’, gebildet wird, nämlich dadurch, daß ein solcher Prozeß der Annahme eines Geschlechts durchlaufen worden ist.

5. Dieser Prozeß der ‚Annahme’ eines Geschlechts wird mit der Frage nach der Identifizierung und den diskursiven Mitteln verbunden, durch die der heterosexuelle Imperativ bestimmte sexuierte Identifizierungen ermöglicht und andere Identifizierungen verwirft und/oder leugnet. Diese Matrix mit Ausschlußcharakter, durch die Subjekte gebildet werden, verlangt somit gleichzeitig, einen Bereich verworfener Wesen hervorzubringen, die noch nicht ‚Subjekte’ sind, sondern das konstitutive Außen zum Bereich des Subjekts abgeben. Der Verworfene [the abject] bezeichnet hier genau jene ‚nicht lebbaren’ und ‚unbewohnbaren’ Zonen des sozialen Lebens, die dennoch dicht bevölkert sind von denjenigen, die nicht den Status des Subjekts genießen, deren Leben im Zeichen des ‚Nicht-Lebbaren’ jedoch benötigt wird, um den Bereich des Subjekts einzugrenzen. Diese Zone der Unbewohnbarkeit wird die definitorische Grenze für den Bereich des Subjekts abgeben; sie wird jenen Ort gefürchteter Identifizierung bilden, gegen den – und kraft dessen – der Bereich des Subjekts seinen eigenen Anspruch auf Autonomie und Leben eingrenzen wird. In diesem Sinne ist also das Subjekt durch die Kraft des Ausschlusses und Verwerflichmachens konstituiert, durch etwas, was dem Subjekt ein konstitutives Außen verschafft, ein verwerfliches Außen, das im Grunde genommen ‚innerhalb’ des Subjekts liegt, als dessen eigene fundierende Zurückweisung.

Die Bildung eines Subjekts verlangt eine Identifizierung mit dem normativen Phantasma des ‚Geschlechts’ [sex], und diese Identifizierung findet durch eine Zurückweisung statt, die einen Bereich des Verwerflichen schafft, eine Zurückweisung, ohne die das Subjekt nicht entstehen kann. Es handelt sich dabei um eine Zurückweisung, die die Valenz der ‚Verworfenheit’ schafft und die deren Status für das Subjekt als bedrohliches Gespenst erstehen läßt. Zudem wird die Materialisierung eines gegebenen biologischen Geschlechts in der Hauptsache die Regulierung der identifikatorischen Praktiken betreffen, dergestalt, daß die Identifizierung mit dem Verwerflichen des Geschlechts [sex] beharrlich geleugnet wird. Und doch droht diese geleugnete Verwerflichkeit, die sich selbst-begründenden Voraussetzungen des sexuierten Subjekts aufzudecken, da dieses Subjekt auf eine Zurückweisung gegründet ist, deren Folgen es nicht vollständig kontrollieren kann. Die Aufgabe wird darin bestehen, diese Drohung und Aufsprengung nicht als ein ständiges Infragestellen sozialer Normen anzusehen, das zum Pathos des ewigen Scheiterns verurteilt ist, sondern vielmehr als kritisches Hilfsmittel im Kampf darum, genau diese Bedingungen der symbolischen Legitimität und Intelligibilität neu zu fassen."

(Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Übers. v. Karin Wördemann. Berlin: Berlin Verlag, 1995. S. 22-24. Farbliche Hervorhebungen von mir, M. C. J.)

Das biologische Geschlecht als phantasmatisches Feld kultureller Identität

„Falls das soziale Geschlecht die soziale Konstruktion des biologischen Geschlechts ist und falls es zu diesem ‚biologischen Geschlecht’ außer auf dem Wege seiner Konstruktion keinen Zugang gibt, dann sieht es nicht nur so aus, daß das biologische Geschlecht vom sozialen absorbiert wird, sondern daß das ‚biologische Geschlecht’ zu so etwas wie einer Fiktion, vielleicht auch einer Phantasie wird, die rückwirkend an einem vorsprachlichen Ort angelegt wird, zu dem es keinen unmittelbaren Zugang gibt.

Ist es aber richtig zu behaupten, das ‚biologische Geschlecht’ verschwinde gänzlich, es sei eine Fiktion im Gegensatz zu dem, was wahr ist, eine Phantasie im Gegensatz zu Realität? Oder müssen gerade diese Gegensätze anders gedacht werden, so daß es sich, wenn das ‚biologische Geschlecht’ eine Fiktion ist, um eine Fiktion handelt, in deren Notwendigkeiten wir leben und ohne die das Leben selbst undenkbar wäre? Und wenn das ‚biologische Geschlecht’ eine Phantasie ist, handelt es sich dabei möglicherweise um ein phantasmatisches Feld, das das eigentliche Terrain kultureller Intelligibilität konstituiert? Würde ein solches erneutes Durchdenken dieser konventionellen Gegensätze auch ein nochmaliges Überdenken des ‚Konstruktivismus’ in dessen üblicher Bedeutung mich sich bringen?"

(Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Übers. v. Karin Wördemann. Berlin: Berlin Verlag, 1995. S. 26-27. Alle Hervorhebungen von mir, M. C. J.)

Der Prozeß der Materialisierung

„Was ich an Stelle dieser Konzeptionen von Konstruktion vorschlagen möchte, ist eine Rückkehr zum Begriff der Materie, jedoch nicht als Ort oder Oberfläche vorgestellt, sondern als ein Prozeß der Materialisierung, der im Laufe der Zeit stabil wird [(vgl. den Begriff der ‚Herrschaft’ bei Foucault, M. C. J.)], so daß sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche herstellt, den wir Materie nennen. Daß die Materie immer etwas zu Materie Gewordenes ist, muß meiner Meinung nach mit Bezug auf die produktiven und eben auch materialisierenden Effekte von regulierender Macht im Foucaultschen Sinne gedacht werden. [...] Durch welche regulierenden Normen wird das biologische Geschlecht selbst materialisiert?"

(Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Übers. v. Karin Wördemann. Berlin: Berlin Verlag, 1995. S. 31-32. Alle farblichen Hervorhebungen von mir, M. C. J.)

Zur Neuformulierung der Performativität

„Aus [der] Neuformulierung der Performativität ergibt sich folgendes:

(a) Die Performativität der Geschlechtsidentität kann nicht unabhängig von der zwangsweisen und wiederholenden Praxis der regulierenden Sexual-Regimes theoretisch bestimmt werden;

(b) die Darstellung der Handlungsfähigkeit, welche von den gleichen Regimen des Diskurses/ der Macht bedingt wird, darf nicht mit dem Voluntarismus oder Individualismus zusammengebracht werden, noch weniger mit Konsumismus, und sie setzt keineswegs ein wählendes Subjekt voraus;

(c) das Regime der Heterosexualität wirkt dahingehend, daß es die ‚Materialität’ des Geschlechts eingrenzt und konturiert, und diese ‚Materialität’ wird durch und als eine Materialisierung regulierender Normen gebildet und aufrechterhalten, wobei diese Normen zum Teil diejenigen der heterosexuellen Hegemonie sind;

(d) die Materialisierung von Normen erfordert jene Identifizierungsprozesse, in denen Normen angenommen und angeeignet werden, und diese Identifizierungen gehen der Bildung des Subjekts voraus und ermöglichen sie. Sie werden genaugenommen aber nicht von einem Subjekt vollzogen; und

(e) die Beschränkungen des Konstruktivismus offenbaren sich an jenen Grenzen körperlichen Lebens, wo es verworfenen oder entlegitimierten Körpern versagt ist, als ‚Körper’ zu gelten. Wenn die Materialität des Geschlechts [sex] im Diskurs abgegrenzt wird, dann wird diese Abgrenzung einen Bereich des ausgeschlossenen und entlegitimierten ‚sex’ hervorbringen.

Darüber nachzudenken, wie und zu welchem Zweck Körper konstruiert werden, wird daher genauso wichtig sein, wie darüber nachzudenken, wie und zu welchem Zweck Körper nicht konstruiert werden, und darüber hinaus wird es wichtig sein, danach zu fragen, wie Körper, die bei der Materialisierung versagen, das notwendige ‚Außen’, wenn nicht gar die nötige Unterstützung für die Körper bereitstellen, die sich mit der Materialisierung der Norm als Körper qualifizieren, die ins Gewicht fallen."

(Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Übers. v. Karin Wördemann. Berlin: Berlin Verlag, 1995. S. 39-40. Farbliche Hervorhebungen von mir, M. C. J.)

Zitierte Literatur

- Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Übers. v. Katharina Menke u. Markus Krist. Berlin: Berlin Verlag, 1997.

- Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Übers. v. Karin Wördemann. Berlin: Berlin Verlag, 1995.

Ausgewählt von Marc C. Jäger, Dezember 2001. Das Layout der Texte wurde teilweise verändert.



Das Buch „Körper von Gewicht” ist z. B. bei Amazon erhältlich.

 


zurück
Zurück zur Homepage