Eine "archaische" (Gouv 66) Machttechnik, nämlich die
Pastoralmacht, die noch aus den
christlichen Institutionen stammt, ist seit dem 16. Jahrhundert in eine neue
politische
Form integriert worden (vgl. SM 247f). Der Staat ist ein politischer Machttyp,
der
die Menschen individualisiert und totalisiert. Schon in der Antike entstanden
vollkommen
neue Machtverhältnisse durch den ethischen Code des Christentums. Die Pastoralmacht
(1.) hat das individuelle Seelenheil in einer anderen Welt zum Ziel,
(2.) befiehlt nicht nur,
sondern ist bereit, sich für das Leben und Wohlergehen der Herde zu opfern,
(3.) kümmert
sich sowohl um die Gemeinde als auch um das einzelne Individuum, (4.)
erforscht die
Seelen, reizt zur Preisgabe von Geheimnissen an und fordert die Gewissensprüfung
(vgl.
SM 248). Die selbstlose, individualisierende, das gesamte Leben begleitende
Pastoral-
macht produziert die Wahrheit des Individuums.
Foucault stellt nun eine Übertragung des Pastorats auf
die moderne Staatsführung fest:
"In gewisser Hinsicht kann man den modernen Staat als eine Individualisierungs-Matrix
oder eine neue Form der Pastoralmacht ansehen" (SM 249). Die säkularisierte
Staatsmacht
will das Heil und Wohlergehen im Diesseits sichern; Medizin und Wohlfahrtssystem
sollen die Gesundheit und Sicherheit gewährleisten. Als zweiten Punkt nennt
Foucault
den Verwaltungsapparat und öffentliche Institutionen wie die Polizei. Gesundheitsbehör-
den, andere Ämter und Privatinitiativen kontrollieren die Hygiene, Gesundheit
und öffent-
liche Ordnung, damit der ökonomische Wohlstand gesichert bleibt. Ein dritte
Form ist
die bipolare Anhäufung von Wissen durch die Agenten der Pastoralmacht (vgl.
WzW 34).
Sie richtet sich an die Individuen und an die Bevölkerung. Die souveräne
und die pastorale
Macht werden nun durch eine allgemeine individualisierende und totalisierende
"Taktik"
ersetzt, die in den verschiedenen Institutionen wirksam ist. Foucault will nicht
nur eine
Befreiung vom Staat und seinen Institutionen, sondern "auch vom Typ der
Individualisie-
rung, der mit ihm verbunden ist" (SM 250). Daher fordert er - ausnahmsweise
in einem
"Muß"-Satz: "Wir müssen neue Formen der Subjektivität
zustande bringen, indem wir die
Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen"
(SM 250).
Seit Ende der 70er Jahre erweitert Foucault seine Kategorien durch den Begriff
der "Re-
gierung" oder der "Gouvernementalität". Letzterer bringt
das Regieren ("gouverner") und
die Denkweise ("mentalité") zusammen. Die Regierung bzw. Führung
meint das "An-
führen" anderer und das Sich-Verhalten in einem relativ offenen Möglichkeitsfeld.
In-
sofern man auf die Handlungsmöglichkeiten der anderen einwirkt oder ihre
potentiellen
Handlungen strukturiert, regiert man. Das "Gouvernement" ist keine
kriegerische oder
juridische Handlung (SM 255), sondern ein Lenken und Regieren von freien Individuen
auf einem strategischen Feld. Der Staat erfaßt immer mehr Machtverhältnisse;
es kommt
zu einer fortschreitenden Verstaatlichung und Institutionalisierung menschlicher
Ver-
haltensweisen:
Es steht fest, daß der Staat in den gegenwärtigen
Gesellschaften nicht bloß eine
der Formen und einer der Orte ist, sondern daß in gewisser Weise alle
anderen
Typen von Machtverhältnissen sich auf ihn beziehen. [...] [D]ies rührt
[...] daher,
daß sich eine stetige Etatisierung von Machtverhältnissen ergeben
hat. Wenn man
sich diesmal an den engeren Sinn des Wortes "Gouvernement" hält,
kann man
sagen, daß die Machtverhältnisse [...] "gouvernementalisiert",
das heißt in der
Form oder unter dem Schirm staatlicher Institutionen ausgearbeitet, rationalisiert
und zentralisiert worden sind (SM 259).
Der Staat als eine Regierungstechnik ist gleichzeitig eine
historische Fixierung und eine
dynamische Form von sozialen Kräfteverhältnissen (vgl. Staat 69).
Er ist keine "Univer-
salie" und "keine an sich autonome Quelle der Macht" (ebd.).
Zweck der Regierung ist es, die von ihr geleiteten Vorgänge
zu vervollkommnen, zu
maximieren und zu intensivieren (vgl. Gouv 54). Die Souveränität hatte
hingegen nur sich
selbst als einzigen Grund. Gesetze und Verbote werden durch Machttaktiken überlagert.
Der Gerechtigkeitsstaat ist seit dem 15. und 16. Jahrhundert zu einem Verwaltungsstaat
geworden, der sich seitdem fortschreitend "gouvernementalisiert". Gouvernementalität
meint den Zusammenschluß sämtlicher Institutionen, Verfahren, Analysen,
Reflexionen,
Vorkehrungen und Taktiken, die eine spezifische Form der Machtausübung
erlauben, wel-
che als "Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische
Ökono-
mie und als wesentliches Instrument die Sicherheitsdispositive hat" (Gouv 64).
Sie über-
nimmt eine Vorrangstellung gegenüber dem souveränen sowie dem disziplinären
Macht-
typen und entwickelt spezifische Regierungs- und Wissensformen. Es geht Foucault
um
drei unterschiedliche ökonomische Machttechnologien: "Recht, Disziplin
und Sicherheits-
techniken." Er beschreibt eine Entwicklung vom Gesetzesstaat des Mittelalters,
über
den Verwaltungs- und Polizeistaat des 16. Jahrhunderts bis zum Regierungsstaat,
der sich
im 18. und 19. Jahrhundert bildet und das Geschick von Individuen und Bevölkerungen
bestimmt.
Der Liberalismus "produziert" Freiheit und organisiert die
Möglichkeitsbedingungen, in
denen die Individuen frei sein können. Gerade diese Produktivität
und ökonomische
Nützlichkeit der Freiheit wirkt repressiv auf die Individuen. Die Regierung
unterdrückt
keine Subjektivität, sondern fördert die "(Selbst-)Produktion", da
sie daran die - oben-
genannten - Regierungsziele knüpft. Diese "Selbstverwirklichung" erfolgt
mittels der
"Durchsetzung einer 'autonomen' Subjektivität als gesellschaftliches Leitbild,
wobei die
eingeklagte Selbstverantwortung in der Ausrichtung des eigenen Lebens an betriebswirt-
schaftlichen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen besteht."
Eine Tren-
nung von Gesellschaft/ Staat und Individuum ist nicht mehr möglich, da
es sich hierbei
um einen "politischen 'double-bind'" handelt, welcher "in der gleichzeitigen
Individuali-
sierung und Totalisierung der Individuen" (SM 250) existiert. Die Regierungstaktiken
bestimmen "was öffentlich ist und was privat ist, was staatlich ist und
was nicht-staatlich
ist" (Gouv 66). Foucault sucht daher in seiner Konzeption der Kritik, in Anlehnung
an
Kant, nach einer "Kunst, nicht auf diese Weise und zu diesem Preis regiert zu
werden"
(PMa 344), "ein[em] Ethos, ein[em] philosophische[n] Leben, in dem die Kritik
dessen,
was wir sind, zugleich eine historische Analyse der uns gegebenen Grenzen ist
und ein
Experiment der Überschreitung" (WiA 53).
In Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um
sich (Sexualität und Wahrheit Bd. 2
und 3) beschäftigt sich Foucault mit den Formen, in denen sich die Individuen
als Subjekte
(einer Sexualität) anerkennen können und müssen (vgl. GdL 10).
Aufbauend auf den
Diskurspraktiken und Machttechnologien untersucht Foucault nun die Herkunft
des sexu-
ellen (Begehrens-)Subjekts (vgl. GdL 11f). Der Genealoge analysiert die "Problematisie-
rungen" und "Praktiken" (GdL 19) im Rahmen der
Selbsttechnologien, die in der antiken
Philosophie die "Ästhetik der Existenz" zum Ziel hatten. Das
Individuum im 4. Jahrhun-
dert v. Chr. ist noch kein unterworfenes (vgl. engl. "subject", frz.
"sujet" = "Untertan"),
sondern ein autonomes und freies, das noch nicht durch Disziplinierungen, Normalisierun-
gen und Regulierungen des Macht-Wissen-Komplexes bezwungen ist. Unter "Subjek-
tivität" versteht Foucault hier ein Selbstverhältnis des Individuums
zur eigenen Existenz
(vgl. GE 274), welches sich noch selbstbestimmt bilden kann, ohne daß
es sich wie das
moderne "freie" Subjekt diskursiven und nicht-diskursiven Zwangsmechanismen
unter-
werfen muß. Ganz anders als das moderne Subjekt kann es sich die Art und
Weise der
Unterwerfung völlig selbständig auswählen. Nach den subjektlosen
Machtstrategien (vgl.
DdM 132f), die im 18. Jahrhundert aufgekommen sind, zeigt Foucault die Konstitution
einer antiken Ethik, die das Leben zu einem Kunstwerk machen will und es als
eine
"schöpferische Tätigkeit" begreift (vgl. GE 274).
Unter die Bezeichnung Moralcode faßt Foucault
die "präskriptiven Elemente", die den
Individuen und Gruppen durch "Vorschreibapparate" (z. B. Familie, Schule, Kirche
usw.)
vorgegeben sind (vgl. GdL 36). Wie sich das Individuum tatsächlich zum
Code verhält
zeigt das Moralverhalten. Eine dritte Ebene ist die Art und Weise, wie
man sich durch
Selbstpraktiken als Moralsubjekt konstituiert (vgl. GdL 37). Die drei
Ebenen sind nie
ganz voneinander getrennt, es gibt jedoch zwei verschieden starke Ausprägungen:
Entwe-
der verhält man sich nach dem den Code akzentuierenden moralischen Gesetz
(christ-
liches Moralmodell), dem sich das "Moralsubjekt [...] unterwerfen muß,
widrigenfalls es
einer Bestrafung verfällt" (GdL 41); oder man handelt nach den "zur Ethik
orientierten"
(GdL 42) Moralen, die es den Individuen erlauben, Selbstpraktiken und asketische
Ver-
haltensweisen zu entwerfen, um zu einer ästhetischen Lebensweise zu gelangen
(antike
Selbstpraktik). Was später zur christlichen Pastoralmacht und zur
Regierung über Indivi-
duen und Bevölkerungen werden soll, ist in der Antike noch die autonome
"Herrschaft
über sich selbst" (enkráteia). Sie meint die Haltung, "die
man zu sich selber haben muß,
um sich als ein Moralsubjekt zu konstituieren" (GdL 51).
Es handelt sich hier also eher um eine historische Verschiebung
mit verschiedenen
Überlagerungen (von der antiken Selbstherrschaft über das christliche
Pastoral - mit dem
monarchischen Gesetzes- und Verwaltungsstaat - bis zur modernen Regierung bzw.
Bio-
Macht) als um einen "radikalen Bruch" in Foucaults Machtanalyse. Foucault hat
seine
Untersuchung der Bio-Macht nicht verworfen, denn kurz vor seinem Tod beklagt
er, daß
er dieses Projekt noch angehen muß (GE 268). Er vollzieht also keinen
klar geschiedenen
Übergang von der Politik zur Ethik, sondern verlagert seinen Untersuchungsgegenstand.
Kommentatoren wie Hinrich Fink-Eitel gehen daher fehl, wenn sie behaupten, es
handele
"sich um eine einfache Aufgabe der Genealogie der Macht zugunsten der Untersuchungs-
formen antiker Ethik." Vielmehr, so stellt Foucault selbst fest, teilt er sein
Projekt in
drei "Gebiete" oder "Achsen" der Genealogie: die historische Ontologie des Subjekts
im
Verhältnis zur Wahrheit, zu einem Machtfeld, zur Ethik (vgl. GE 275, vgl.
Schema 1). Der
Genealoge erklärt zudem, daß bereits Der Wille zum Wissen
(Sexualität und Wahrheit Bd.
1) zur ethischen Achse gehört. Der Achse der Subjektivität wird keineswegs
eine fast ko-
härente genealogische "Machttheorie" zur Seite (oder gar entgegen-)gestellt.
Foucaults
dynamische Macht- und Wissensanalytik wird statt dessen durch eine ethische
Untersu-
chung erweitert. Alle drei Ebenen durchdringen sich gegenseitig und werden bereits
in
Wahnsinn und Gesellschaft (1961) thematisiert (vgl. GE 275). Bei den
Analysen in Der
Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich handelt es sich
demnach lediglich um Ak-
zentverschiebungen zur Ethik und Subjektivität, nicht um einen "radikalen
Bruch".
Foucault wendet sich gegen die Auffassung, daß im Christentum
der sexuelle Akt als
Sünde, das Böse oder der Tod gilt, während in der Antike der
Geschlechtsakt, die mono-
game Treue, homosexuelle Verhältnisse und die Keuschheit kaum oder überhaupt
nicht
thematisiert werden (vgl. GdL 22f). Tatsächlich verhält es sich aber
so, daß es die vier
Problematisierungen oder moralischen Codes sowohl in der griechischen und der
rö-
mischen Antike als auch in der christlichen Moral gibt (vgl. Schema 6).
Die vier Proble-
matisierungspunkte der "sexuellen Zucht" (1. Reglementierung der Lust, 2. das
Gebot
monogamer Treue, 3. das Verbot gegenseitiger homosexueller Lust, 4. die philosophische
Problematisierung der "Sexualität") sind stets Grund zur Sorge (vgl. GdL
32). Ihnen wer-
den jeweils vier Gegenstände und vier Lebenskünste (vgl. GdL 45) zugeordnet:
1. Körper
(Diätetik), 2. Frau bzw. Gattin (Ökonomik),
3. Knabe (Erotik), 4. Wahrheit (Philoso-
phie).
Im klassischen Griechenland gibt es keine moralischen Verbote,
sondern ein Recht, von
der Macht, der Freiheit und der Autorität Gebrauch zu machen. Dieses Recht
gilt aller-
dings nur für die freien Männer der Polis, Frauen sind in der Antike
dagegen "äußerst
strengen Zwängen unterworfen" (GdL 33). In der "männlichen Moral"
kommt den Frauen
nur eine Rolle als "Objekt" zu, welches von der Männern geformt, erzogen
und überwacht
wird (vgl. GdL 33). Für die antiken Griechen ist die Passivität, die
man damals mit "weib-
lich" und "unterlegen" verbindet, das größte Übel. Der Mann
soll - der männlichen Moral
zufolge - seine sexuellen Beziehungen beschränken, weil er durch seine
Selbstbeherr-
schung besser Macht in der Polis sowie Macht über seine Frau und die Sklaven
des Hauses
ausüben kann; die Frau ist dagegen allein ihrem Mann und seinen Anweisungen
verpflich-
tet (vgl. GdL 191f).
Durch Selbstbeherrschung (enkráteia), Mäßigung
(sophrosýne), den angemessenen Ge-
brauch der Lüste (chrêsis aphrodisíon) entwickelt der männliche
Polis-Bürger die ethi-
sche Substanz (aphrodísia). Diese Lebenskünste (vgl. GdL 51) bestimmen
Regelmäßig-
keit, Maß, Zeitpunkt und Voraussetzungen des Gebrauchs der Lüste.
Ethik, Selbsttechnik
und Politik sind auf das engste miteinander verbunden: "Die Ethik der Lüste
folgt dersel-
ben Ordnung wie die politische Struktur" (GdL 95): Wenn der Herr unmäßig
ist und es
ihm daher an politischer Machtstruktur (arché) fehlt, dann ist er auch
unfähig, die niede-
ren Mächte zu beherrschen und zu besiegen.
Die Diätetik regelt das Maß der leiblichen
Genüsse, des Essens und Trinkens, der aske-
tischen Übung des eigenen Körpers. Die Lebenskunst der Ökonomik
beschäftigt sich
mit der Sorge um Nachkommen, verlangt von den mit asymmetrischen Rechten ausge-
statteten Ehepartnern Mäßigung. Bei der Erotik geht es um
das Problem, daß vom Mann
in der Polis-Herrschaft immer Aktivität gefordert wird und er einen Partner
braucht, der
ebenso frei und ehrenhaft ist. Einer muß jedoch immer der passive, "unterlegene"
Teil
sein. Aufgrund dieses Widerspruchs entsteht die moralische Problematisierung
der Kna-
benliebe, denn die Männlichkeit des jungen Knaben ist nur als Verheißung
des Herr-
schenden innerhalb der Polis vorhanden (vgl. GdL 254). Die Erziehung zu einer
ehren-
vollen Männlichkeit gilt als Entschädigung für die Passivität
des Knaben. Doch die
Sorge um die Ehre des jungen Mannes bleibt erhalten, so daß man die Knabenliebe
eher
problematisiert als praktiziert. Als letzte der vier Lebenskünste wird
in der Philosophie
eben dieses Thema der Erotik zum Problem: Die Knabenliebe bildet eine "wechselseitige
Verbindung zwischen dem Zugang zur Wahrheit und der sexuellen Zucht" (GdL
290). Es
setzt sich mehr und mehr eine Moral des Entsagens durch (vgl. GdL 291).
In Die Sorge um sich zeigt Foucault die Transformationen
des Moralverhaltens im 1.
und 2. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung. Der Geschlechtsakt wird "als gefährlich
betrachtet" (SuS 149), weil der Mann wertvolles Sperma verlieren, sich zu stark
veraus-
gaben und anspannen kann. Es kommt zu einer "Pathologie der sexuellen Aktivität"
(ebd.),
die zum "permanenten Herd möglicher Übel" (SuS 187) wird. Die Ehe
verwandelt sich
von einer "Privatinstitution zur öffentlichen Institution" (SuS 99). Das
Verhältnis von
Mann und Frau wird zunehmend symmetrischer, Eheverträge regeln ein gegenseitiges
"System von Pflichten" (SuS 104), die wechselseitige Freundschaft und Liebe
von Ehe-
partnern entsteht (vgl. SuS 265-69). Die Knabenliebe wird langsam zurückgedrängt,
da
man die körperliche Lust des Knaben negiert und die Ehe mehr und mehr den
Platz der
"widernatürlichen" Liebe und Freundschaft zwischen Männern einnimmt
(vgl. SuS 283-
291). Die Selbstbeherrschung wird zum "Selbstzweck", da sie nun mehr dem Individuum
als der Polis dient. Von einer Unterdrückung der "Sexualität" kann
man hier aber nicht
sprechen, so ist z. B. die Knabenliebe weiterhin erlaubt. Es herrscht eher eine
"Sorge
um sich", die zur der spätantiken Auffassung führt, daß alles,
was die Lüste betrifft, den
Stand in der Polis, den Körper und damit die gelungene Machtausübung
gefährden kann.
Wie gesagt, ist der vierte Band von Sexualität und
Wahrheit, der das christliche Pastoral
zum Thema haben soll, bisher noch nicht erschienen. Die Christen übernehmen
viele
der "Strengepraktiken" von der Antike (vgl. GE 283, vgl. SuS 303f).
In der christlichen
Asketik wird die Frage der Reinheit immer wichtiger; das Selbst wird geschaffen
"als
etwas, dem es zu entsagen und das es zu entziffern" (GE 286) gilt. Der
Geschlechtsakt, der
bei den Griechen noch eine Sache des aktiven Handelns ist, wird bei den Christen
zur
Passivität (z. B. ist die Erektion bei Augustinus etwas unfreiwilliges,
vgl. GE 271). Man
hat sich passiv zu verhalten, weil sexuelle Aktivität ein Zeichen der "Ursünde"
(ebd.) ist.
Der Geschlechtsakt gilt nun an sich als Übel und wird nur in der Ehe gestattet;
die Kna-
benliebe wird als vollkommen "widernatürlich" verdammt (vgl.
SuS 301); vorher noch als
"weiblich" und passiv verurteilte Werte werden angeraten (vgl. GE
286). Jungfräulichkeit,
sexuelle Treue, Symmetrie der Beziehung zwischen Mann und Frau in der Ehe und
Erotik
als "heterosexuelle" Beziehung sind die Tugenden der "neuen Erotik"
(vgl. SuS 292-297)
des Christentums.
"Von Sexualität als historisch konstitutiver Erfahrung
reden setzte also voraus, daß die
Genealogie des begehrenden Subjekts in Angriff genommen und nicht nur auf die
Anfänge
der christlichen Tradition, sondern auf die antike Philosophie selbst zurückgegriffen
wurde." Foucault beschreibt in seinem Spätwerk die Genese des modernen
Subjekts und
der Bio-Macht, indem er zurück in die Antike geht, um dort die ersten Subjektivierungs-
praktiken zu zeigen; diese haben allerdings kaum Gemeinsamkeiten mit dem modernen
disziplinierten, normalisierten Subjekt. Bei den Griechen gibt es noch keine
Definition des
Subjekts (vgl. RdM 144). Das vorchristliche männliche Individuum der herrschenden
Elite
kann sich seine Unterwerfungsweise aus freiem Willen selbst wählen. In
der Spätantike
wird die Ehe und die Ökonomie immer wichtiger, das Allianzdispositiv entsteht
langsam.
Es kommt zu einer stärkeren Problematisierung des Sexualverhaltens, das
jetzt als "ge-
fährlich" gilt. Die Knabenliebe ist zwar noch erlaubt, wird aber von der
Ehe verdrängt. Die
Selbstbeherrschung zur erfolgreichen Herrschaft über andere ("Le gouvernement
de soi et
des autres" ) wird zum Selbstzweck.
Im Urchristentum werden die asketischen Praktiken der Griechen
übernommen. Enthalt-
samkeit wird aber nun durch die Erbsünde begründet. Mit einer "Selbstdechiffrierung"
versucht man, die Sünde aufzuspüren und sich zu reinigen. Der sexuelle
Akt darf sich nur
noch in der Ehe abspielen und hat allein die Fortpflanzung zum Ziel. Das Urchristentum,
das den Menschen dazu zwingt sich selbst auszuforschen, trägt schon erste
Züge des
inquisitorischen Macht-Wissens. Foucault zeigt, daß die Subjektivierungspraktiken
von
dort an immer an Machttaktiken geknüpft sind. Das göttliche Gesetz
(der Dekalog) und
religiöse Institutionen nehmen verstärkt den Platz von Philosophie
und Lebenskunst ein.
Hier sind schon erste Ähnlichkeiten mit der kodifizierenden, souveränen
Gesetzesmacht,
die straft und verbietet, auszumachen. Obwohl seit der Aufklärung die Disziplinar-
und
Normalisierungsmacht des Macht-Wissen-Komplexes die juridische Souveränitätsmacht
überlagert, wird sie von den Menschen weiterhin so gedacht. Man vermutet
die Macht
"oben" und lokalisiert sie im Staatsapparat. Die Macht maskiert sich mehr und
mehr.
Durch genaues Ausfragen der Individuen und durch Disziplinierung
ihrer Leiber produ-
ziert man gefügige, nützliche und gelehrige Körper. In der christlichen
Beicht- und Selbst-
befragungspraxis ist schon der Code für das spätere panoptische Verfahren
der Selbst-
überwachung enthalten. Aus der antiken Herrschaft über sich selbst
wird nach etlichen
diskontinuierlichen, dynamischen Modifikationen und Transformationen - mit ähnlichen
Problematisierungen und Codes - nach über 2000 Jahren die Macht über
"Bevölkerungen",
die menschliches Leben immer mehr kontrolliert, produziert und steuert. Sie
wirkt sowohl
auf die kleinste Geste des Subjekts als auch auf ganze "Bevölkerungen".
Das Netz der
Macht wird immer engmaschiger. Aus der Selbstregierung wird die Führung
durch Regie-
rungen, die durch vielfältige Institutionen (Familie, Schule, Polizei usw.)
die Individuen
dressieren, damit sie ökonomisch nützlich sind. Die unterworfenen
Subjekte werden wei-
terhin verstaatlicht, vergesellschaftet und "gouvernementalisiert". "Freie"
Menschen sind
gezwungen, ihr eigenes Leben beständig im Zusammenhang mit der Gesellschaft
zu befra-
gen und zu planen. Foucault verbindet damit seine Mikrophysik der Macht mit
dem mo-
dernen Verwaltungs- und Versorgungsstaat: "Ich wollte zeigen, daß es ausgehend
von ei-
ner relativ mikroskopischen Analyse möglich ist, die allgemeinen Probleme
des Staates
zusammenzufügen. Den Staat als Mach-Art anzusehen, als Denk-Art, das ist,
meiner Mei-
nung nach, eine der fruchtbarsten Möglichkeiten seiner Analyse" (SudW 44).
Leider fehlen in Foucaults Darstellung der Genese moderner
Bio-Macht etwa 1200-
1400 Jahre (3. Jahrhundert n. Chr. bis 15./ 16. Jahrhundert). Fast das gesamte
Mittelalter
ist - offensichtlich bedingt durch Foucaults frühen Tod - in seiner Genealogie
moderner
Macht und Subjektivität ausgespart. Es gilt heute, diese Lücke durch
die Forschung zu
schließen.
Von Foucault wird oft behauptet, daß er die antike "Ästhetik
der Existenz" und das
"gouvernement de soi et des autres" als positive Gegenmodelle der modernen
zwanghaf-
ten Machtverhältnisse betrachtet. Das hat er allerdings nie gesagt, denn
Foucault ist sich
durchaus bewußt, daß man die antiken Verhältnisse nicht auf
die heutigen übertragen
kann:
Die griechische Ethik war an eine rein männliche Gesellschaft
mit Sklaven ge-
bunden, in der die Frauen Benachteiligte waren, deren Lust keine Bedeutung hatte,
deren Sexualleben nur von ihrem Status als Ehefrauen gelenkt und bestimmt sein
sollte, usw. (GE 268). Sie betraf nur eine ganz kleine Minderheit (RdM 135)
[Sie]
ist an eine männliche Gesellschaft, an Asymmetrie, Ausschluß des
anderen, Pene-
trationszwang, Furcht, um die eigene Energie gebracht zu werden usw. gebunden.
All das ist wenig verlockend (GE 270). Eine Periode, die nicht die unsere ist,
be-
sitzt keinen exemplarischen Wert ... nichts zu dem man zurückgehen könnte
(GE
271). In dieser regelmäßigen Rückkehr zu den Griechen liegt
sicher eine Art No-
stalgie, ein Versuch, wieder zu einer ursprünglichen Form des Denkens zu
gelan-
gen und eine Anstrengung, die griechische Welt außerhalb christlicher
Phänome-
ne zu begreifen (RdM 139).
Foucault findet nichts Bewundernswertes oder Beispielhaftes
an den Griechen (vgl. RdM
135). Er glaubt vielmehr, daß man einiges von der antiken Ethik retten
kann, daß man
manches aber - auch aufgrund von historischen Veränderungen - aufgeben
muß (vgl. RdM
140). Der genealogische Historiker will ferner zeigen, daß es überdies
andere Subjektivie-
rungsformen gibt, als die, die uns heute so geläufig sind. Mit dem Blick
auf die antike
Moral kann das moderne Subjekt hinterfragt werden, um dadurch neue, zeitgemäßere
Sub-
jektivierungsmöglichkeiten zu finden.