Eine der meistdiskutiertesten Foucault-Kritiken ist die von
Jürgen Habermas. Ihr zufolge
reduziert Foucault die wissenschaftliche Wahrheit auf Macht. Foucault leugnet
aber
nicht, daß es z. B. eine lebenspraktische Wahrheit gibt, vielmehr will
er zeigen, daß Wis-
sen weder von der Macht unabhängig noch neutral ist. Daher lehnt er es
auch ab zu glau-
ben, daß die "Erkenntnis des Subjekts" seine Befreiung wäre,
denn diese ist schon von den
Disziplinarpraktiken durchdrungen. Habermas glaubt nicht, daß Foucault
die Subjektphi-
losophie überwindet, sondern er setze an ihre Stelle eine subjektlose Macht.
Seiner Genea-
logie käme eine empirische und transzendentale Rolle bei der Analyse der
Humanwissen-
schaften zu. Foucaults Macht wäre scheinbar in der Lage objektive Erfahrungen
und allge-
meine Wahrheiten zu bilden, andererseits sollen Machtpraktiken nur sich transformieren-
de Ausgestaltungen der empirischen Geschichte sein. Daher wären auch Foucaults
Wahrheitsansprüche nur Machteffekte: "Der Sinn von Geltungsansprüchen
besteht also in
den Machtwirkungen, die sie haben [...], diese Grundannahme der Theorie [ist]
selbstbe-
züglich; sie muß, wenn sie zutrifft, die Geltungsgrundlage auch der
von ihr inspirierten
Forschungen zerstören." Foucault lehnt einen totalisierenden Wahrheitsbegriff
- wie den
in Habermas´ Theorie - allerdings vollkommen ab. Die Wahrheit ist bei ihm eine
konkrete
Erfahrung.
Jürgen Habermas
Ein weiterer Kritikpunkt ist Foucaults normative Beliebigkeit.
Er verzichtet in seinen
genealogischen Machtanalysen auf ein transzendentales Stifter-Subjekt und auf
ein univer-
salistisch-globales Begründungsprogramm. Dies rechtfertigt er damit, daß
er niemandem
vorschreiben will, was als "die Wahrheit" zu gelten hat (vgl. GdL 16); außerdem
gibt es
kein geschichtliches Subjekt, das nicht Produkt von sozialen Praktiken ist.
Für Foucault ist
die Vorstellung, eine einzelne Form von Moral vorzugeben, der sich dann jeder
zu unter-
werfen hat, "katastrophal" (RdM 144). Habermas wirft ihm einen "Kryptonormativismus"
vor, denn er tue so, als ob die Macht weder "gut" noch "böse" wäre
(vgl. DdM 191), doch
schon diese Behauptung wäre nicht wertfrei. Der Philosoph der Kritischen
Theorie hält
an der universalistischen Position fest, da sie ebenso "unausweichlich wie philosophisch
möglich" wäre. Foucault könnte sich normativ-moralischen Bewertungen
nicht entzie-
hen, weil er Teil einer diskursiven Lebenswelt ist. Dem würde Foucault
wahrscheinlich
zustimmen, doch würde er kaum annehmen, daß man moralische Urteile
"wissenschaft-
lich" begründen kann.
Auch Nancy Fraser stellt die Frage nach der normativen Grundlage
von Foucaults Kritik
der Macht. Sie wäre "normativ verworren." Er lehnt es ab, Normen
vorzugeben, sagt
aber nicht, warum man den Widerstand der Unterwerfung vorziehen und die jetzigen
Machtverhältnisse bekämpfen soll. Foucault scheint die liberalen Normen
nicht zu suspen-
dieren, sondern vorauszusetzen. Wie soll wirkungsvoller Widerstand überhaupt
möglich
sein, wenn es kein "Außerhalb der Macht" gibt? Foucault ist
sich dieses Problems be-
wußt. Er weiß, daß er selbst ein Teil des Macht-Wissens ist;
gerade deshalb verzichtet er
strategisch auf Normen, weil diese normierend und disziplinierend wirken. Er
möchte, daß
die Kritik eben auf solche normativen Grundlagen und ihre Konstitutionsbedingungen
ab-
zielen muß, da die Gesellschaft und die Wissenschaft ihre eigenen ausblenden.
Nancy
Fraser
Nancy Hartsock unterstellt Foucault, daß er - als westlicher,
weißer Mann und Koloni-
sierer, der sich angeblich für die Kolonisierten einsetzen will - nun gerade
jetzt, wo sich
Frauen in der nicht-westlichen Welt als Subjekte einklagen, erklärt, daß
es kein Subjekt
gibt. Das hat Foucault indessen keineswegs behauptet. Er ist sich darüber
im klaren, daß
sich das Individuum auf eine bestimmte Weise unterwerfen muß. Er schafft
das Subjekt
nicht ab, sondern macht eine Absage an "das Subjekt". Folglich
sucht er nach neuen
Formen der Subjektivierung und plädiert für eine freie Wahl der Unterwerfung
als mög-
lichst weitgehend unabhängiges "Sub-jekt". Zudem hat der Genealoge
Emanzipationsbe-
wegungen von Frauen vielerorts begrüßt (vgl. u. a. MdM 66, DdM 84,
GE 270, DdM 184f,
DdM 116, DdM 160f). Hartsock erklärt, Foucault unterbreite keine Alternative
zu den
traditionellen liberalen und marxistischen Theorien, bloßer Widerstand
sei nicht genug.
Die ungleichen Machtverhältnisse verschwänden bei Foucault; er beschuldige
die Opfer
dafür, daß sie an ihrer eigenen Unterdrückung partizipieren.
Folglich spreche er nicht
vom Standpunkt der Kolonisierten aus und biete keine Epistemologie, die einen
schöpfe-
rischen Widerstand ermögliche.
Poststrukturalistische Feministinnen wie Judith Butler und
Jana Sawicki antworten auf
diese Kritik: Sie lehnen ein einheitliches, universales feministisches Subjekt
ab, da dieses
eine feste "weibliche" Identität voraussetzt. Das Subjekt ist für
sie kein Ding, keine sub-
stantielle Entität, sondern eine Bezeichnung für ein System von diskursiven
Möglichkei-
ten. Eine feministische Identitätspolitik, die ein Gründungssubjekt
annimmt, nagelt fest
und zwingt die Subjekte, welche sie glaubt zu befreien und zu repräsentieren.
Auch
Wendy Brown nimmt nicht an, daß es eine "Wahrheit" außerhalb von
sozialer Konstruk-
tion gibt. Eine feministische "Wahrheit" oder Identität wäre
daher ebenfalls ein Konstrukt,
denn es gibt kein Wissen ohne Machtwillen. Außerdem besteht dadurch die
Gefahr,
daß man patriarchale Konstruktionen von "Weiblichkeit" übernimmt.
Jana Sawicki
schließt daraus, daß Foucaults Analysen der feministischen Selbstkritik
dienen können,
um aus ihnen neue Werkzeuge für spezifische Kämpfe zu entwickeln.
Sie bemängelt
allerdings, daß er die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei den Disziplinartechniken
auf der Mikro-Ebene vergißt und sein Politik des Widerstands nicht ausreichend
ist, da
diese nur eine Reaktion auf die Macht wäre. Heike Raab sieht schließlich
in der "Ver-
knüpfung feministisch poststrukturalistischer Theorieansätze mit 'traditionellen'
femini-
stischen Sozial- und Gleichberechtigungspolitiken" einen Ausweg, weil letztere
ein
pragmatisches Mittel wären, vor allem soziale Ungleichheiten - auch unter
Frauen - zu
beseitigen.
Judith Butler
Zugleich geht Jane Flax davon aus, daß ein überhistorisches
transzendentales Subjekt
nur denen dient, die unsere soziale Welt dominieren. Für sie ist - Foucaults
Analysen
erweiternd - der Begriff "Geschlecht" sowohl als analytische Kategorie als auch
als
sozialer Prozeß rein relational. Die heutigen Geschlechterverhältnisse
schaffen Kategorien
wie "Mann" und "Frau", die sich ausschließen. Dabei wird oft so getan,
als ob der "Mann"
völlig unproblematisch wäre. Für sie sind Männer und Frauen
daher beide "prisoners of
gender". In den siebziger Jahren wurde in einigen feministischen Schriften noch
be-
hauptet, "die Frau" wäre "natürlich" und "sozial". Damit übernahmen
die Feministinnen
leider viele der "männlichen" Vorurteile: Von Männern wurde behauptet,
daß sie mehr
Interesse an der Ausübung von Macht hätten, die Natur und die (weiblichen)
Körper
meistern wollten, aggressiver und militärischer denken würden. Jane
Flax meint: "In our
attempts to correct arbitrary (and gendered) distinctions, feminists often end
up in re-
producing them." Die "weibliche" Denkweise ist auch durch die herrschenden Macht-
Wissen-Beziehungen begründet. Sie fordert eine "transvaluation of values";
ein voll-
kommene Beschränkung auf positiv-assozierte "weibliche Werte" (Mütterlichkeit,
soziales
Handeln, keine Aggressionen usw.) ist nämlich unproduktiv und grenzt die
Handlungs-
möglichkeiten von Frauen und Männern ein, die damit auf eine
Geschlechteridentität
festgeschrieben werden. Flax weist darauf hin, daß Frauen ebenso Macht
über andere
haben und ausüben. Im Gegensatz zu Nancy Hartsock lehnt sie ein Sprechen
für "die Frau"
ab, weil eine solche Person nicht existiert. Eine nicht-abendländische,
nicht-weiße, nicht-
gebildete, nicht-gesunde Frau hat vielleicht ganz andere Interessen als eine
amerikanische
Wissenschaftlerin wie Nancy Hartsock, die an dem "wir" festhält ("we [...]
the oppres-
sed"). Jane Flax tritt dagegen für eine Theorie ein, die Raum für
Ambivalenzen, Ambi-
guitäten und Vielfältigkeiten zuläßt. Sie kritisiert aber
an Foucault, daß er in seiner Ana-
lyse geschlechtsbegründete Asymmetrien ausklammert. Ihr ist klar, daß
die Bio-Macht
den männlichen und den weiblichen Körper kolonisiert, sie weist aber
darauf hin, daß dies
oftmals auf verschiedene Weisen geschieht. Der Kampf gegen festgelegte Identitäten
und die Dekonstruktion von Selbstkonzeptionen sind für Flax gemeinsame
Ziele von Post-
strukturalismus ("Postmodernists") und feministischer Theorie. Heute beschäftigt
sich
die feministische Diskussion immer noch mit dem Problem der realpolitischen
Handlungs-
möglichkeiten poststrukturalistischer Theorie.
Hinrich Fink-Eitel kritisiert, daß Foucault sich mit
seinem ubiquitären "Monismus
der Macht" in einer Sackgasse befindet: "Foucault [scheint sich] mit seiner
Diagnose
totaler Machtverhältnisse in eine Situation lähmender Handlungsunfähigkeit
hineinma-
növriert zu haben." Clemens Kammler hegt den Verdacht, daß Foucaults
Forderung
nach lokalen, spezifische Kämpfen der Marginalisierten vielen Intellektuellen
als "beque-
mes Alibi für politische Abstinenz" dienen könnte, da sich ein Genealoge
angeblich immer
außerhalb der Macht befindet. Wie schon mehrmals gesagt, hat Foucault
niemals ge-
sagt, daß er nicht Teil des Macht-Wissens wäre. Ganz im Gegenteil:
Foucault will, daß
dieses machtvolle Wissen im politischen Kampf eingesetzt wird. Lücken innerhalb
des
Machtnetzes sind für ihn die "neuen Formen der Subjektivität", die
Foucault nicht weiter
spezifiziert, um Festschreibungen zu vermeiden. Die Sehnsucht nach einer Alternative,
die viele Leser Foucaults eint, wird damit allerdings nicht befriedigt.
Aber warum setzt sich Foucault nicht für eine globale
Strategie, eine Revolution ein?
Weil eine große Revolution (im Sinne einer Re-evolution) die alten Herrschaftsstrukturen
nur in einem neuen Gewand reproduziert. Der Widerstand ist dann lediglich eine
Re-
aktion auf die gegebenen Machtverhältnisse (vgl. DdM 194f). Wer einen globalen
Kampf
fordert, der muß sich ferner fragen lassen, ob er "der Mühe wert"
ist und ob er sein Leben
dafür geben will (vgl. DdM 198). Foucault bietet keine universale Theorie
an, weil es
ihm in seiner "Werkzeugkistentheorie" darum geht, "nicht ein System, sondern
ein Instru-
ment zu konstruieren: eine den Machtverhältnissen und den um sie herum
ausbrechenden
Kämpfen angemessene Logik" (DdM 216). Der "spezifische Intellektuelle"
stellt sein
Wissen zur Verfügung, ohne sich als neuer Prophet aufzuspielen, der die
"Wahrheit" hat,
denn die Unterdrückten wissen selbst, was zu tun ist (vgl. DdM 197, vgl.
DdM 44ff, DdM
227ff, SdW 128ff). Er will keine Kriege im Namen der "Rasse", des "Volkes",
der "Herr-
schaft des Proletariates", sondern "reale, materielle, tägliche Kämpfe"
(DdM 45). Es geht
ihm um die alltägliche Unterdrückung, die ein Einzelner oder kollektive
Subjekte erleben;
es geht um Realität, nicht um eine systematische Theorie oder eine Ideologie,
in der das
Allgemeine und der Konsens zwingend auf das Besondere und Individuelle einwirken.
Andere Interpreten forschen in Foucaults Leben nach einem Ausweg. Sie suchen
- oft-
mals sehr unkritisch - in seiner Biographie danach, wie eine "Ästhetik
der Existenz" aus-
sehen könnte. Foucault sieht sein Leben nicht als Vorbild für widerständiges
Handeln. Er
läßt sich auch niemals von bestimmten sozialen und kulturellen Bewegungen
völlig ver-
einnahmen. Sein coming-out als Homosexueller kommt erst sehr spät, weil
er befürchtet,
daß man ihn dann auf eine homosexuelle Identität festlegen will (vgl.
auch WzW 185)
und er zu dem "schwulen Philosophen" erklärt wird. Hans-Herbert Kögler
und James
Miller scheuen allerdings keine Indiskretion und sehen seinen Sadomasochismus,
den sie
als Abkehr vom Genitalsex und dem Sex-Begehren begreifen, seinen gelegentlichen
Kon-
sum von harten Drogen und seine erotischen Männerfreundschaften als Praktiken
an, mit
denen man der "habitualisierten Kraft moderner Macht zu trotzen" vermag. Dabei
be-
rücksichtigen sie allerdings nicht, daß Foucault z. B. immer wieder
auf Probleme wie Dro-
genabhängigkeit, Zuhälterei, Polizeikontrollen und Prostitution, die
im Zusammenhang
mit dem Drogenhandel und dessen Profiten entstehen, hingewiesen hat (vgl. MdM
50,
MdM 63, MdM 66, MdM 72 usw.). Seine persönliche Lebensgestaltung zur allgemeinen
Regel für eine neue Form der Subjektivierung zu erklären, würde
nur weitere Machtwir-
kungen mit sich bringen. Jedes Individuum soll selbst frei entscheiden können,
wie der
"Gegenangriff" mit dem Körper und den Lüsten gegen das Sexualitätsdispositiv
aussehen
mag (vgl. WzW 187). Foucault will keine Verherrlichung "des Wahnsinns, der Kinder,
der
Delinquenz, des Sex" (DdM 192), sondern ihre genealogische Analyse soll zeigen,
wie
man mit ihnen zu einer spezifischen Zeit und an einem spezifischen Ort umgegangen
ist
sowie welchen Machtpraktiken sie unterworfen waren und sind. Es kann nicht darum
gehen, sich durch bipolares Denken auf die "richtige Seite" zu stellen, sondern
indem man
eine andere Perspektive einnimmt, löst sich das "Zwei-Seiten-Denken" auf;
man durch-
schaut die Illusion des "Natürlichen" (vgl. DdM 192).
Viele Rezipienten folgen deshalb Foucaults Argumenten, betonen
seine kritische Lei-
stung und die neuen, produktiven und effektiven, Perspektiven, die durch seine
Analysen
eröffnet werden können. Sie lassen die Frage nach einer genauen Bestimmung
der Sub-
jektivität, die der Macht widerstehen soll, bewußt offen. Gilles
Deleuze erhofft sich einen
Ausweg in der Anerkennung des Differenten; diese soll sich gegen festgelegte
Identitäten
widerspenstig zeigen:
Der Kampf für eine moderne Subjektivität geht durch
einen Widerstand gegen die
beiden aktuellen Formen der Unterwerfung hindurch; die eine besteht darin, uns
gemäß den Ansprüchen der Macht zu individualisieren, die andere
darin, jedes
Individuum an eine gewußte und bekannte Individualität zu fesseln.
Der Kampf
für die Subjektivität präsentiert sich folglich als Recht auf
Differenz, als Recht
auf Variation, zur Metamorphose.
Gilles Deleuze
Obzwar Kögler darum weiß, daß nicht jeder
z. B. die gleichen Bildungschancen hat und
sich darum auch nicht jeder wie ein Dandy (vgl. WiA 44) die Existenzweise und
Moral
frei wählen kann, hält er gleichfalls eine selbstbestimmte Subjektivität
für eine Alternative
zur gesellschaftlichen Allmacht. Urs Marti hebt Foucaults Bemühungen um
eine Kritik
der Wissenschaften und ihrer Machtwirkungen hervor. Foucault hat in seiner "kritischen
Geschichte der Humanwissenschaften" gezeigt, wie es ihnen gelungen ist, differente
Le-
bensweisen weithin einzuschränken und zu kontrollieren. Deshalb schließt
er sich ihm
an und fordert: "[W]ir müssen nicht entdecken, was wir sind, sondern die
uns zugeschrie-
bene Identität verweigern."