In den Kritiken von Foucaults Werk wird immer wieder die eine
Frage gestellt: Wie
läßt sich ein Widerstand gegen die Normalisierungsmacht und die Disziplinarmacht
be-
gründen, wenn es weder ein universales, transzendentales, transhistorisches
Subjekt noch
eine normative Begründung für widerständige Aktionen gibt? Wenn
man aber Foucault
folgt und sich diesen beiden Punkten verweigert, dann kann die Antwort nur lauten,
daß
sich die Körper auf nicht-diskursive Weise widerständig zeigen. Es
verwundert, daß den
Kritikern kaum aufgefallen ist, wie sehr Foucault das Körperliche und das
Non-verbale
in seinen Analysen betont.
Die Disziplinarmacht produziert Körper, die sie danach
wieder durch Normalisierung
intergrieren will: Die Magersüchtige, deren Körper von der Schönheitsnorm
gezeichnet
ist; der Angstneurotiker, dem die Stimme versagt, dem das Herz rast und dessen
Leib
zittert; der Soldat, in den sich die Bio-Macht der "Bevölkerung" mit Wunden
eingeschrie-
ben hat; die "hysterische Frau", deren psychosomatische Erregung sie aufschreien
oder in
Ohnmacht fallen läßt; der Bergarbeiter mit der Staublunge; der HIV-infizierte
Drogen-
abhängige; sie alle brauchen keine normative Theorie, die eine widerständige
Reaktion
begründet. Ihr Körper zeigt sich widerständig gegenüber
den Zwängen und Einpflanzun-
gen der Macht, die ihn "fabriziert" hat (vgl. MdM 91).
Aber in dem gesellschaftlichen Körper (Hervorhebung
von mir, M. C. J.), in den
Klassen, in den Gruppen, den Individuen gibt es immer etwas, das in gewisser
Wei-
se den Machtbeziehungen entgeht; etwas, das durchaus nicht ein mehr oder we-
niger fügsamer Rohstoff ist, sondern eine zentrifugale Bewegung, eine umgepolte
Energie, ein Entwischen (DdM 204).
Der Sprache dieser Körper hört niemand wirklich zu,
man sieht diese Körper nicht ("Die
Gesellschaft tut alles, um die Blicke aller von allen Ereignissen abzulenken,
welche die
wahren Machtverhältnisse verraten. [...] Hier wie dort will man das Übel
nur an der Wur-
zel packen, d. h. dort, wo man es nicht sieht oder spürt - weit weg vom
Ereignis [...]";
MdM 29). Sie werden mediziniert, psychiatrisiert und therapiert, weil sie für
die Gesell-
schaft nicht nutzbringend sind. Die konkrete Erfahrung von gesellschaftlichem
Zwang am
Leib ist weniger eine "Krankheit", sondern ein Widerstand auf der physischen
Mikro-
Ebene, der keine normative Begründung braucht. Die Realität des Körpers
ist eine Moral
vor jeder Moral.
Der Schizophrene, der die Welt mit anderen Augen betrachtet,
soll - sofern das über-
haupt möglich ist - solange therapiert werden, bis er sich unterwirft,
in die Falle geht,
und eine andere, "normale" Realitätskonzeption als seine eigene akzeptiert.
Aber selbst
dann läßt man ihn nicht in Ruhe, er trägt immer das Stigma mit
sich: "Du bist verrückt
gewesen. Du wirst also bis ans Ende deiner Tage derjenige gewesen sein, der
einmal
verrückt gewesen ist" (MdM 132f). In der Hierarchie des Patientengesprächs
ist er immer
dem Experten konstitutiv unterlegen. Das Vielfältige im Denken wird einer
Herrschaft des
Sinns, der Bedeutung, des Analogen und des Bipolaren unterworfen. Der Patient
krankt
oft nicht an seiner von der Norm abweichenden Wirklichkeitswahrnehmung, sondern
an
der gesellschaftlichen Sanktionierung und Disqualifikation. Das Ende des freien
Dialogs
zwischen Vernunft und Unvernunft ist der Zeitpunkt, in dem "die Vernunft für
den Men-
schen aufgehört hat, eine Ethik zu sein, um statt dessen eine Natur zur
werden" (PuG 131).
Man hat verlernt, dem Wahnsinnigen noch zuzuhören; "das
Wort des Wahnsinnigen
[wurde] entweder nicht vernommen oder, wenn es vernommen wurde, als Wahrheit
ge-
hört" (ODis 12). Entweder man sah darin eine verborgene Wahrheit oder
nur unsinniges
Gestammel. Seit dem 18. Jahrhundert bricht der Dialog ab, die Psychiatrie spricht
nur
noch in einem Monolog über den Wahnsinn (WuG 8). Eine andere Weltsicht
paßte nicht
in eine aufklärerische Denkweise, die Heterogenes durch den Konsens gleichmacht.
Das
Differente wird der allgemeinen Norm unterworfen. Den Wahnsinnigen soll man
- Fou-
cault zufolge - nicht die Wahrheit ablauschen, aber das Wissen über die
konkrete Macht-
erfahrung am Körper der Kranken, der Psychiatrisierten, der kritischen
Ärzte usw. (vgl.
DdM 60) muß zur Sprache kommen. Foucault kann für diese Menschen
nicht sprechen,
doch er setzt sich dafür ein, daß man, ohne Hierarchien (Arzt/ Patient,
Experte/ Unwissen-
der, Gesunder/ Kranker) aufzubauen, diesen Erfahrungen Gehör schenken muß.
Oftmals wurden diese differenten Realitätsauffassungen
ästhetisiert. Es dauerte aber
nicht lange bis Schriftsteller wie Franz Kafka und Paul Celan die Identität
des "Angstneu-
rotikers" und des "Schizophrenen" zugewiesen bekamen. Die "Schizophrenie"
ist für
Foucault nichts, was etwas Realem in der Welt entspricht, doch ihre Problematisierung
und soziale Regulierung "ist eine 'Antwort' auf eine konkrete Situation,
die durchaus real
ist" (DuW 179). Das Leiden der beiden Künstler an der Realität
der Disziplinargesell-
schaft (Kafka) und an den katastrophalen Auswirkungen der Bio-Macht (Celans
Eltern
starben in KZs) zwang sie dazu, sich Therapien zu unterziehen. Letztlich flüchtete
sich
Kafka in eine Tuberkulose-Erkrankung, Celan beging Selbstmord. Die Ästhetisierung
solcher Leiderfahrungen und die Fiktionalisierung individueller Geschichte kann
eine
Möglichkeit sein, der normierenden und totalisierenden Macht zu entwischen.
Unter der
"Ästhetik der Existenz" kann man also auch eine künstlerische
Bearbeitung konkret er-
fahrener Realität verstehen (Dr. Rose in der Rede von Toul: "An
diesem Tag, an diesem
Ort war ich da und habe gesehen [...]", MdM 28). Foucaults Meinung nach
zeigt Baude-
laire diese kritische Haltung gegenüber seiner gegenwärtigen Realität:
"Baudelairesche
Modernität ist eine Übung, in der die höchste Aufmerksamkeit
dem Wirklichem gegen-
über mit der Praxis einer Freiheit konfrontiert wird, die dieses Wirkliche
gleichzeitig res-
pektiert und verletzt" (WiA 44). Die "Ästhetik seiner selber"
ist eine Übung, bei der man
sich selbst nicht richtend aburteilt, sondern eine distanzierte Perspektive
einnimmt, inne-
hält und sich prüft (vgl. DuW 175).
Foucault glaubt allerdings nicht, daß es heute noch solche
Schriftsteller gibt, denn die
Dichter schreiben nicht mehr von konkreten Erfahrungen, sondern verarbeiten
lediglich
die neuesten Theorien (vgl. MdM 45f). Der Schriftsteller als moralische Instanz
ver-
schwindet. Foucault hofft nun, daß der "spezifische Intellektuelle" (MdM
45) seinen Platz
einnimmt. Heute haben Biologen (Gentechnik) und Physiker (Atombombe, Kernenergie)
die Macht über Leben und Tod ganzer "Bevölkerungen". Kritische Intellektuelle
müssen
heute als "Experten" die Instrumente für den Widerstand gegen eine Normalisierung
der
angeblich "wertfreien" Wissenschaft liefern. Foucault fordert die Politisierung
der Richter,
Psychiater, Ärzte, Sozialarbeiter, Soziologen usw. (vgl. MdM 49), um der
Macht entge-
genzuwirken. Tatsächlich hat es besonders seit den 70er Jahren immer wieder
einzelne
Intellektuelle und Gruppen von Wissenschaftlern gegeben, die sich gegen Normalisierun-
gen gewehrt haben (z. B. Ärzte gegen Atom). Auch in der breiten öffentlichen
ethischen
Debatte kommt den Intellektuellen eine wichtige Rolle bei der Thematisierung
von Ster-
bebegleitung (z. B. der Artikel von Erika Feyerabend in der Frankfurter Rundschau
vom
7. 12. 2000: "Die Normalisierung von Tötungshandlungen"), Erinnerungskulturen/-politi-
ken (Holocaust-Mahnmal, Gedenkstätten usw.), Gentechnik und anderen Politikfeldern
zu.
Foucault fordert, daß die Intellektuellen an spezifischen, lokalen Orten
kämpfen, in dem
sie sich beispielsweise als "Normale", die vorgeben "schizophren" zu sein, in
die Psychia-
trie begeben, um dort nach einer Weile den "Irrtum" aufzuklären (vgl. MdM
131-134). Sie
sollen den Marginalisierten das Expertenwissen zur Verfügung stellen, damit
diese gegen
die omnipräsente Macht an bestimmten Plätzen kämpfen können.
Bisher haben die "infa-
men Menschen" (Wahnsinnige, Kranke, Spinner, Delinquenten, Perverse, gewohnheits-
mäßige Arbeitslose, Prostituierte, Drogenabhängige, vgl. u.
a. MdM 66) aber kaum auf das
Wissen zurückgegriffen. Die öffentliche Diskursivierung der gescheiterten
Existenzen ist
nicht weit fortgeschritten.
Christoph Schlingensief hat versucht, durch seine Popularität
der Rede von Wahnsinni-
gen und Ausgeschlossenen ein Forum zu bieten. Der Versuch mußte scheitern
("Scheitern
als Ziel"), weil man diesen Diskurs für nicht "ernsthaft" oder "seriös"
hielt, obwohl gerade
die Marginalisierten - und nicht die Experten - am besten von ihrem Unglück
berichten
können. Wahrscheinlich scheiterte der Versuch auch deshalb, weil sich Schlingensief
dabei zu sehr in den Vordergrund drängte oder er dazu gezwungen wurde.
Ansätze wie die
Diskursivierung von spezifischen Realitäten, die Ästhetisierung der
Politik, spontane
Aktionen, Selbstermächtigung des Individuums ("wähle dich selbst!"),
das Aufzeigen von
verlorenen Kämpfen und die Abwehr von zugewiesenen Identitäten sind
sicherlich in
Foucaults Sinne. Zu einer andauernden öffentlichen Diskussion haben Schlingensiefs
Aktivitäten allerdings nicht geführt. Sie zeigen aber, daß Widerstand
über eine bloß "ver-
neinende Stadtguerillia" hinausgehen kann. Marxisten und Psychiater schweigen
meist
ebenfalls zu Foucaults genealogischen Machtanalysen, oder beachten diese erst
gar
nicht (vgl. DdM 66f).
Foucault fordert "ein neues Recht [...], das nicht nur
von den Disziplinen, sondern zu-
gleich auch vom Prinzip der Souveränität befreit ist" (DdM 95).
Dieses Recht braucht
keine theoretische Legitimation und basiert zudem nicht auf dem sogenannten
"gesunde[n]
Menschenverstand" (DdM 60). Ein Recht, das sich nicht von der Normalisierungsmacht
vereinnahmen läßt, muß respektieren, daß der Andere anders
ist und daß er sich immer
wieder ändern kann. Jacques Derrida formuliert - in Bezug auf Paul de Man
- ein
solches Recht, dessen erste Regel folgendermaßen lauten könnte:
Erste Regel: die Achtung für den anderen, das heißt
die seines Rechtes auf Diffe-
renz in seinem Verhältnis zu den anderen, aber auch in seinem Verhältnis
zu sich.
Was heißen hier diese großen Worte? [...] Achtung des Rechtes auf
Irrtum, ja Ver-
irrung, [...] nicht nur Achtung des Rechtes auf eine Geschichte, auf einer Verwand-
lung seiner selbst und seines Denkens, das sich nie zu Homogenem totalisieren
oder reduzieren läßt [...]. (Jacques Derrida)
Die Achtung des Rechtes auf Differenz, die Widerständigkeit
des unterworfenen Körpers
und der Lüste sowie eine kritische Haltung gegenüber der Wirklichkeit
sind gangbare Al-
ternativen zum Souveränitäts- und Disziplinarrecht.