2. Die genealogische Analysemethode:

Michel Foucault verlagert Ende der sechziger Jahre - vor dem Hintergrund der sozialen
Widerstände und den Studentenprotesten dieser Zeit - sein Hauptinteresse. Konzentrierte
sich Foucault vormals vor allem auf seine rein diskursanalytische archäologische Metho-
de, rückt nun das Politische deutlicher in den Vordergrund. Nach der Untersuchung von
einzelnen, lokalen "Diskursivitäten" in der Archäologie (vgl. TL 205), interessiert ihn
nun das "Problem der 'diskursiven Ordnung', der sich aus dem Spiel der Zeichen ergeben-
den spezifischen Machtwirkungen" (DdM 26). Diese Problematik hatte er in seinen vor-
herigen Arbeiten noch vernachlässigt.

 

In seiner Inauguralvorlesung am Collège de France im Jahr 1970, Die Ordnung des
Diskurses, beschreibt er die Genealogie noch als eine Ergänzung seiner archäologischen
Theorie (vgl. ODis 43). Die Archäologie lehnt Foucault erst kurz vor seinem Tod gänz-
lich als nicht adäquat ab. In seinem Spätwerk bezieht er sich kaum noch auf vormals zen-
trale Begriffe wie "Macht" und "Diskurs".

 

Die "genealogische Geschichtsschreibung" ist "eine auf Machtphänomene spezialisierte
Optik", welche "alle historischen Vorgänge als Produkte einer übergreifenden Bewegung
der Abfolge von Herrschaftssystemen" betrachtet . Unter "Diskurs" versteht Foucault ein
ordnungsloses, unaufhörliches "Rauschen" (ODis 33) von Aussagen, das durch diskursive
Regeln "kontrolliert, selektiert und kanalisiert wird", um sein "unberechenbar Ereignishaf-
tes zu bannen", "die Gefahren des Diskurses zu bändigen" sowie "seine schwere und be-
drohliche Materialität zu umgehen" (ODis 11, vgl. Schema 3). Der Diskurs taucht immer
dort auf, wo man die Herrschaft über die Meinungen gewinnen will, wo es um die Macht
geht, durch "Ausschließungsprozeduren" zu bestimmen, was innerhalb und was außerhalb
der Wahrheit liegt (vgl. ODis 29), was als Vernunft und was als Wahnsinn zu gelten hat
(vgl. PuG 104f). Er "ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht; de-
ren man sich zu bemächtigen sucht" (ODis 11).

 

Zu den Prozeduren der Ausschließung gehören Tabu und Verbot (nicht jeder hat das
Recht, alles und zu jeder Gelegenheit zu sagen), Grenzziehung und Verwerfung (damit
ist z. B. die Entmündigung des Wahnsinnigen und der Ausschluß seiner Rede gemeint).
Der Wille zur Wahrheit ist schließlich "jene gewaltige Ausschließungsmaschinerie" (ODis
17), die den "Zwang der Wahrheit" (ODis 13) organisiert und vom Falschen abgrenzt.
Dieser Zwang wird institutionell getragen und teilweise mit Gewalt durchgesetzt (vgl.
ODis 13). Unter "Wahrheit" versteht Foucault ein "Ensemble von geregelten Verfahren
für Produktion, Gesetz, Verteilung, Zirkulation und Wirkungsweise der Aussagen" (DdM
53).

 

Zu einer zweiten Gruppe der Kontrollen und Einschränkungen des Diskurses gehören
die Prozeduren, die innerhalb der Diskurses selbst wirksam sind. Der Kommentar wieder-
holt, verdoppelt bereits Gesagtes, um die Vielfalt und den Zufallscharakter eines Textes oder
einer Rede zu annullieren (vgl. ODis 19f). Dem Autor wird die Identität eines Ich
und eine Individualität zugewiesen, um den Zufall zu bändigen (vgl. ODis 22). Disziplinen
kontrollieren und organisieren die wissenschaftliche Diskursproduktion (vgl. ODis 25).
Mit der letzten Gruppe von Einschränkungsprozeduren sind die Regeln zur praktischen
Umsetzung gemeint, die dem Diskurs aufgezwungen werden. Die Subjekte müssen sich
ihrem entsprechenden Diskurs (z. B. dem technischen, wissenschaftlichen, ökonomischen,
medizinischen) unterwerfen; ebenso beugen sich die Diskurse einer Gruppe von sprech-
enden Individuen (vgl. ODis 29). Somit erscheint beispielsweise die Schule - wie jedes
andere pädagogische System - als "eine politische Methode, die Aneignung der Diskurse
mitsamt ihrem Wissen und ihrer Macht aufrechtzuerhalten und zu verändern" (vgl. ODis
30).

 

Während die Genealogie die Regeln des "Formierens eines Diskurses" zeigt, bezieht sich
die Kritik auf die durch Diskurse "gestiftete Ordnung", die "zugerichtete Welt" (vgl. Sche-
ma 2). Letztere "analysiert die Prozesse der Verknappung, aber auch der Umgruppierung
und Vereinheitlichung der Diskurse; die Genealogie untersucht ihre Entstehung, die zu-
gleich zerstreut, diskontinuierlich und geregelt ist" (ODis 41).

 

Foucaults genealogischer Teil seiner Analyse bezieht sich demnach:
auf die Serien der tatsächlichen Formierung des Diskurses; er versucht, ihn in
seiner Affirmationskraft zu erfassen, worunter [Foucault] nicht die Kraft versteh[t],
die sich der Verneinung entgegensetzt, sondern die Kraft, Gegenstandsbereiche zu
konstituieren, hinsichtlich deren wahre oder falsche Sätze behauptet oder verneint
werden können. Wenn wir diese Gegenstandsbereiche als Positivitäten bezeichnen,
können wir [mit Foucault] sagen: ist der Stil der Kritik die gelehrte Ungeniertheit,
so ist das Temperament der Genealogie ein glücklicher Positivismus (ODis 44).

 


Friedrich Nietzsche

 

Seine "Analytik moderner Macht" (DdM 125, vgl. WzW 102, vgl. DdM 127, vgl. MdM
80) resultiert unter anderem aus der Auseinandersetzung mit Nietzsche, dem "Philoso-
ph[en] der Macht", und dessen "Genealogie der Moral" (vgl. MdM 46f). In seiner Schrift
Nietzsche, die Genealogie, die Historie lehnt Foucault - Nietzsche folgend - eine "Suche
nach dem Ursprung" (PMa332) ab, weil sich daran der Gedanke knüpft, daß der Ur-
sprung der "Ort der Wahrheit" (PMa 334) wäre: "Die Wahrheit ist ein Irrtum, der nicht
mehr abgewiesen werden kann, weil er durch eine lange Geschichte hartgesotten wurde"
(PMa 335). Geschichte gehorcht allerdings keiner Mechanik oder Teleologie, sondern
dem "Zufall des Kampfes". Anders als z. B. Hans-Georg Gadamer vertritt Foucault die
Meinung, daß die Geschichtlichkeit "eine kriegerische" ist, die "nicht zur Ordnung der
Sprache" gehört (DdM 29). Der Genealoge versucht, die Lehrsätze von Entwicklung,
Fortschritt und unveränderlichen Wahrheiten zu zerstören, um sie durch ein Kräftespiel
von Machtverhältnissen in einem spezifischen historischen Zeitraum zu ersetzen, das
durch Zufälle und Ereignisse bestimmt ist. Diese Kämpfe führen schließlich nicht zu
einem allgemeinen Konsens; die Menschheit "verankert alle ihre Gewaltsamkeiten in
Regelsystemen und bewegt sich von Herrschaft zu Herrschaft" (PMa 341). Gesellschaft-
liche Institutionen und moralische Werte entstehen aus Foucaults Sicht, keineswegs weil
sie nützlich sind oder einen bestimmten Zweck erfüllen, sondern sie sind selbst Herr-
schaftsäußerungen, Effekte von Machtverhältnissen, denen erst nachträglich eine Funktion
zugeordnet wird.

 

Für den genealogischen Historiker gilt es nun, die Herkunft der abendländischen Nor-
men, Werte, Ideen und "Wahrheiten" zu analysieren sowie die Erinnerung an die lokalen
Kämpfe um anerkanntes Wissen wiederzuentdecken (vgl. TL 203). Macht und Wissen
sind eng miteinander verbunden: Der Wille zum Wissen ist Machtwille (vgl. ODis17, vgl.
MdM 45). Es gibt daher auch keine "objektiven" Humanwissenschaften, denn ihre
"Wahrheit[en] des Menschen" (WuG 549) sind nicht interesselos. Folglich geht die hu-
manistische Vorstellung, daß es Wissen ohne Macht gibt und daß die Macht blind für das
Wissen ist, fehl: Macht kann sich nicht ohne Wissen vollziehen - und umgekehrt (vgl. MdM 44f).
Die Genese des Subjekts, die Formung von Individualitäten, Körpern und Diskursen sind
weitere Untersuchungsbereiche dieser "Anti-Wissenschaft" (DdM 62), die sich weigert,
sich auf ein "Subjekt beziehen zu müssen, das das Feld der Ereignisse transzendiert und
es mit seiner leeren Identität die ganze Geschichte hindurch besetzt" (DdM 32). Das "Wer-
den der Menschheit" erscheint als eine "Reihe von Interpretationen" (PMa 342), denen
man sich durch ein Regelsystem zu bemächtigen sucht. Der Humanismus mit seinen uni-
versellen Regeln wird von Michel Foucault als Resultat eines "zufälligen Auftauchens
erfolgreich durchgesetzter Interpretationen" demaskiert.

 

Herrschaftsverhältnisse schreiben sich in die Körper der Menschen (vgl. PMa 431). Der
Leib ist nicht lediglich physiologischen Gesetzen unterworfen, sondern historische Ereig-
nisse und Änderungen der Lebensweise prägen sich in ihn ein. Körper und Geschichte
durchdringen sich gegenseitig: Der Körper ist durch Machtpraktiken geformt und läßt
sich, da er keine Konstante ist, durch die geeigneten Techniken immer wieder transfor-
mieren. Aus diesem Grund kann er auch nicht der Selbsterkenntnis des Menschen die-
nen.

In Uberwachen und Strafen will Foucault die "Geschichte der Körper" (ÜuS 36) und der
Disziplinen zurückverfolgen; Der Wille zum Wissen zeigt die "Genealogie [der] 'Wissen-
schaft vom Sex'" (DdM 101). Beide Analysen untersuchen die "Geschichte des Subjekts"
(RdM 133) im Bedingungskreis von Machttechniken und Wissensproduktion (vgl. u. a.
WzW 22f, ÜuS 37ff). Als kritischer Archivar führt Foucault den Kampf gegen einen "als
wissenschaftlich angesehen" Diskurs (vgl. DdM 63). Den "unterworfenen Wissensarten"
(DdM 59) stellt er seine Bücher als "kleine Werkzeugkisten" (MdM 53) zur Verfügung,
damit sie von den Marginalisierten zum Aufstand gegen Machtsysteme genutzt werden
können.