9. Die Bio-Macht und das Sexualitätsdispositiv:

 

9. 1. Die Repressionshypothese:

Zunächst einmal muß gesagt werden, daß Michel Foucault im ersten Band von Sexualität
und Wahrheit (Der Wille zum Wissen) nicht behauptet, daß es "keine Unterdrückung der
Sexualität gegeben" (WzW 8) hat. Diese Hypothese ist nicht völlig falsch, sondern viel
zu einfach. Es geht ihm schlicht um die Frage, "ob man zur Entschlüsselung der Bezie-
hungen zwischen Macht, Wissen und dem Sex die gesamte Analyse am Begriff der Re-
pression orientieren" (ebd.) muß. Entgegen der Repressionshypothese, die besagt, daß die
Wahrheit (des Sexes) zuerst der Macht entgegengesetzt ist und uns befreit, argumentiert
Foucault, daß die Wahrheit immer schon von der Macht besetzt ist (vgl. MdM 44). In
seiner Analyse möchte er dem Problem nachgehen, inwiefern in den modernen Gesell-
schaften "die Produktion von Diskursen, die [...] mit einem bestimmten Wahrheitswert
geladen sind, an die unterschiedlichen Machtmechanismen und -instutionen gebunden"
(WzW 8) ist.

 

In der Repressionshypothese behaupten die Sprecher, daß wir uns historisch - in bezug
auf den Sex - "von einer Periode relativer Offenheit hinsichtlich unseres Körpers und un-
seres Sprechens auf zunehmende Repression hin bewegen." Demnach, so meinen die
Vertreter dieser Auffassung, hätte es im 17. Jahrhundert noch eine völlige Freiheit ge-
geben: "Direkte Gesten, schamlose Reden, sichtbare Überschreitungen, offen zur Schau
gestellte und bunt durcheinandergewürfelte Anatomien, gewitzte Kinder, [...] 'radschlagen-
de Körper'" (WzW 11). Doch seit Mitte des 19. Jahrhunderts wäre es zu einer dramati-
schen Veränderung des freizügigen Diskurses und der offenbarten Körper gekommen:
Nun folgten, dieser Ansicht zufolge, "die monotonen Nächte des viktorianischen Bürger-
tums" (WzW 11). Der kümmerliche Rest, der von der Sexualität übriggeblieben war, wur-
de demnach nur noch heimlich zwischen den Eltern vollzogen. Sex wurde zensiert, ver-
schwiegen, langweilig und zweckbestimmt. Angeblich wäre er nur auf Reproduktion aus-
gerichtet; die Rede darüber einem heuchlerischen Code unterworfen. Der Sex des Purita-
nismus unterlag scheinbar einem Kodex, der untersagt, schweigt oder ihn nicht-existent
macht (vgl. WzW 13).

Die Repressionshypothese wird für viele der Sprecher, die sie verkünden, deshalb so in-
teressant, weil sich diese Sichtweise hervorragend mit der Ausbreitung des Kapitalismus
verbinden läßt: "Sex wurde unterdrückt, weil er mit der von der kapitalistischen Ordnung
erforderten Arbeitsethik unvereinbar war" (vgl. WzW 14), denn die Unterdrückung ist
die Herrschaftsform des Kapitalismus, die keine unnötige Verschwendung von Energien
zulassen darf.

 

Foucault nimmt dagegen keineswegs an, daß es eine übergeschichtliche, überkulturelle,
"eigentliche" oder "wahre" Sexualität gibt, die befreit werden muß. Die Sexualität ist
immer schon an spezifische Machtformen gekoppelt. Sexualität hat in der abendländi-
schen Zivilisation eine solche Wichtigkeit, daß sie immer wieder problematisiert wird,
gerade weil sie an die Macht gebunden ist: "Möglicherweise reden wir mehr vom Sex als
von jeder anderen Sache; [...] wir glauben, daß uns das Wesentliche dauernd entgeht und
wir darum stets aufs Neue seine Spur aufnehmen müssen" (WzW 46).

 

Diejenigen, die vom unterdrückten Sex und der unterdrückenden Macht reden, erhof-
fen sich allerdings einen Gewinn davon und träumen vom "neuen Jerusalem":

 

Wer diese Sprache spricht, entzieht sich bis zu einem gewissen Punkt der
Macht, er kehrt das Gesetz um und antizipiert ein kleines Stück der Freiheit.

[...] Den Mächtigen widersprechen, die Wahrheit sagen und den Genuß ver-
sprechen; Aufklärung, Befreiung und vervielfachte Wollüste aneinanderbin-
den; einen Diskurs halten, in dem die Wißbegierde, der Wille zur Änderung
des Gesetzes und der erhoffte Garten der Lüste verschmelzen [...] (WzW 15f).

 

Die Prediger der Repressionshypothese sind noch dem Modell der souveränen Macht ver-
bunden, welche die Machtwirkungen lediglich als zwingend, negierend und beschränkend
auffaßt. Die unterdrückende Macht bekämpft demnach die Wahrheit, weil sie nur durch
ihre fälschliche Ideologie bestehen kann. In der Schlacht gegen die Macht muß man sich
mit Wahrheit rüsten. Für Foucault ist Sex indessen "nicht über die Unterdrückung an die
Macht gebunden" (WzW 17). Er wendet sich damit auch gegen Jürgen Habermas, der mit
einer transzendentalen Vernunft kritisch gegen die Herrschaft und das Gesetz der Unter-
drückung vorgehen will. Der Genealoge bestreitet - wie schon oben erwähnt - diese voll-
kommen negative, "juridisch-diskursive" (WzW 102, vgl. DdM 71) Vorstellung von
Macht. Dem genealogischen Philosophen ist selbstverständlich auch klar, daß sein Diskurs
der Diskurs eines Intellektuellen ist, der als solcher in den bestehenden Machtnetzen funk-
tioniert (vgl. MdM 53). Als Analytiker predigt er keinem Menschen, was die heilsbrin-
gende "Wahrheit", die "Befreiung" oder der "gute Sex" (WzW 16) ist.

 

9. 2. Der Dispositivbegriff:

Foucault führt in Der Wille zum Wissen den Begriff "Dispositiv" ein, der von nun an
die diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken innerhalb des Macht-Wissen-Komplexes
(vgl. Schema 4) kennzeichnet. Er versteht darunter ein "entschieden heterogenes En-
semble, das Diskurs, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Ent-
scheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philoso-
phische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie
Ungesagtes umfaßt" (DdM 120). Der Dispositivbegriff stellt eine Raster von ungleichen,
beweglichen, materiellen Machtbeziehungen dar. Das Dispositiv verknüpft die Vielzahl
der Elemente zu einem Netz, in dem es immer wieder zu Transformationen der Funktion
und Positionsänderungen kommen kann. Es funktioniert zumeist strategisch, um bei einer
bestimmten historischen Situation (z. B. einem Notstand) wirkungsvoll zu reagieren (vgl.
DdM 120). Bei der strategischen Wiederauffüllung eines Dispositivs geht es darum, ne-
gative Entwicklungen (z. B. die Resozialisierung der Straffälligen schlägt fehl) ins Posi-
tive umzukehren (z. B. Nutzbarmachung der Delinquenz). Die Strategie greift in die Kräf-
teverhältnisse ein, um zu blockieren, zu produzieren, zu manipulieren, nutzbar zu machen
(vgl. DdM 122f). Sie stützt sowohl Typen von Macht als auch von Wissen. Dispositive
haben nur eine lokale Verständlichkeit innerhalb eines insgesamt bedeutungslosen Krie-
ges, d. h. die Taktiken machen nur bei einem spezifischen Konflikt Sinn.

 

Das Dispositiv unterscheidet sich vom Epistem, welches Foucault in Die Ordnung
der Dinge einführte, dadurch, daß es auch nicht-diskursive Strategien berücksichtigt. "Institu-
tionen" sind für den französischen Philosophen "aufgezwungene, eingeübte Verhalten[s-
weisen], [...] [a]lles was in einer Gesellschaft als Zwangssystem funktioniert und keine
Aussage ist" (DdM 125). Die Institution bezeichnet "alles nicht-diskursive Soziale" (DdM
125) innerhalb eines Dispositivs. Unter Dispositiv muß man, Foucault zufolge, die Maß-
nahmen innerhalb eines Apparates verstehen, die nötig sind, um eine Strategie erfolgreich
durchzusetzen (vgl. WzW 35).

 

Das Nicht-diskursive läßt sich allerdings nur sehr schwer historisch untersuchen, da man
es nur auf der Metaebene darstellen kann. Nicht-diskursive Dispositive (wie z. B. eine Ar-
chitektur, Ordnungen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit) kann man nur dann geschicht-
lich analysieren, wenn sie diskursiv in Aussagen niedergelegt sind. Nicht-diskursives, das
nur vermittelt zugänglich ist, wird erst durch Diskursivitäten sichtbar.

 

Ebenso wie der Diskursbegriff ist auch die Kategorie des Dispositivs sehr ungenau.
Heike Raab bemerkt, daß die "mangelnde Präzision von Foucaults Hauptkategorien" oft-
mals "den Eindruck eines diffusen 'alles hängt irgendwie mit allem zusammen'" er-
weckt. Vielleicht betont Foucault auch deshalb so sehr das Heterogene, weil er sich
nicht auf eine "Formel" z. B. für die Macht festlegen will (DdM 208). Foucault befindet
sich ja selbst immer innerhalb des Machtnetzes, deshalb sind seine Auffassungen über
bestimmte Begriffe einer historischen Veränderung unterworfen. Vorwürfe, daß die un-
genauen Kategorien hin und wieder das Gefühl vermitteln, er wäre nicht ganz wissen-
schaftlich, hätte er damals eventuell sogar billigend - und mit einem Lächeln - in Kauf ge-
nommen.

 


9. 3. Bio-Macht:

Etwa seit dem 17. Jahrhundert kommt die politische Technologie der Bio-Macht auf.
Die Aufrechterhaltung des Lebens sowie das Wachstum und die Gesundheit der Bevölke-
rungen werden zu einer zentralen Angelegenheit des Staates, der einen neuen Typ der po-
litischen Rationalität entwickelt. Die Theorien der Gesellschaftsvertrags, der Souveränität
und des Naturrechts maskieren die tatsächlichen Transformationen der modernen Macht-
praktiken: "[N]ur unter der Bedingung, daß sie einen wichtigen Teil ihrer selbst verschlei-
ert, ist die Macht erträglich. Ihr Durchsetzungserfolg entspricht ihrem Vermögen, ihre Me-
chanismen zur verbergen" (WzW 107). Mitte des 17. Jahrhunderts entsteht mit der neuen
politischen und technischen Rationalität die "wissenschaftliche", empirische Untersu-
chung von geschichtlichen, demographischen und geographischen Bedingungen durch die
Sozialwissenschaften. Diese Wissenschaften der Verwaltung verbinden sich mit der "Bio-
Macht" bzw. der "Bio-Politik". Die Bio-Politik bezeichnet eine wohl kalkulierte Verwand-
lung des Macht-Wissen-Komplexes in einen "Transformationsagenten menschlichen Le-
bens" (vgl. WzW 170).

 

Die moderne Machttechnologie zielt auf das Leben: "Der moderne Mensch ist ein Tier,
in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht" (WzW 171). Das Biolo-
gische spiegelt sich im Politischen wider: Anhand von naturwissenschaftlichen Kategorien
wie "Spezies" und "Bevölkerung" will man die Menschen untersuchen. Die menschliche
Fortpflanzung wird zum Gegenstand der neuen Wissenschaften.

Der zweite Technologie der Bio-Macht richtet sich auf die Verwaltung und Manipu-
lation der Körper zur "rechnerischen Planung des Lebens" (WzW 167). Die - hier schon
vorgestellte - Disziplinarmacht stellt fügsame, produktive und gelehrige Körper her, um
die Nützlichkeit und Fügsamkeit der Individuen und der Bevölkerung zu gewährleisten.
Das Aufkommen des Kapitalismus ist an die Ausweitung der Disziplinartechnologien ge-
koppelt: "Diese Bio-Macht war gewiß ein unerläßliches Element bei der Entwicklung des
Kapitalismus, der ohne kontrollierte Einschaltung der Körper in die Produktionsapparate
und ohne Anpassung der Bevölkerungsphänomene an die ökonomischen Prozesse nicht
möglich gewesen wäre" (WzW 168).

 

Die gleiche Zielsetzung hat die Normalisierungsmacht bei den Individuen: "Eine Macht,
die das Leben zu sichern hat, bedarf fortlaufender, regulierender und korrigierender Me-
chanismen.[...] [Die] Macht muß eher qualifizieren, messen, abschätzen, abstufen, als sich
in einem Ausbruch manifestieren" (WzW 171f, vgl. DdM 170). Die Normalisierungs-
gesellschaft wird zum Effekt einer auf die Sicherung des Lebens ausgerichteten Macht-
technologie (vgl. WzW 172).

 

Das administrative Wissen der Bio-Macht zielt auf den Staat als Selbstzweck, es soll
die "besondere Natur eines besonderen historischen Staates" kennzeichnen. Die Re-
gierung braucht ein Wissen, das durch Erziehung, Demographie, Tabellierung und Stati-
stik alles über Ressourcen, Einwohnerzahl, Reichtum und Empfindungen der Einwohner
eines Staates ausforscht (vgl. WzW 167). Die regulierende Bio-Politik der Bevölkerung in-
teressiert sich für die Fortpflanzung, die Sterblichkeits- und Geburtenrate, den Gesund-
heitsstandard, die Fruchtbarkeit, Krankheitshäufigkeit, Ernährung, Wohnverhältnisse und
die Lebensdauer. Zum ökonomischen und politischen Problem wird die Bevölkerung (vgl.
WzW 37), deren Leben zunehmend verstaatlicht wird (vgl. Staat 69).

 

An die Stelle der alten, souveränen "Todesmacht" des Feudalismus (der "Gesellschaft
des Blutes"), die das "Recht über Leben und Tod" (WzW 161) besaß, treten nun die beiden
Pole der Bio-Macht: Disziplinarmacht und Bio-Politik, denen die "Macht zum Leben" ge-
meinsam ist (vgl. Schema 5). Bindeglied zwischen den zwei Teilen der Bio-Macht ist die
"Sexualität", da durch sie sowohl Zugang zur Disziplinierung des Körper wie auch zur Re-
gulierung der Gattung ermöglicht wird ("Gesellschaft des Geschlechts"). "Somit bietet
der Bereich der Sexualität das ideale Fundament zur Disziplinierung und Regulierung von
Menschen."

 

Darauf kommt es zu einer Diskursexplosion, welche der Lebenskraft des menschlichen
Körpers dienen soll. Die "Techniken der Maximalisierung des Lebens" kümmern sich um
"den Körper, die Stärke, die Langlebigkeit, die Zeugungskraft und die Nachkommenschaft
der 'herrschenden' Klassen" (WzW 148). Die mittleren Klassen wollen sich vom Adel und
dessen Blutsymbolik abgrenzen. Ihr "Blut" ist nun der Sex (vgl. WzW 150). Zugleich ver-
läuft die Grenzziehung auch zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse. Das Bür-
gertum hat lange gezögert, ihnen den bürgerlichen Sex und eine Körper zuzugestehen, das
Sexualitätsdispositiv soll nur ihm zur Stärkung, zur Fortpflanzung und zum weiteren Fort-
bestand dienen (vgl. WzW 151). Ende des 19. Jahrhunderts wird von den Moralisten vor
Gefahren gewarnt; verstärkte Aufmerksamkeit, Unterdrückung und Verheimlichung wer-
den angeraten. Der Sex gilt nun als Geheimnis, dessen Wahrheit immerzu aufgespürt wer-
den muß, da sie so lange verschwiegen wurde (vgl. WzW 154f). "Sex als Bedeutung dehnt
sich nun zu Sex als administrative Kontrolle aus."

Soziale Wohlfahrtsprogramme werden organisiert, Erziehungsgesellschaften versuchen
Inzestpraktiken zu unterbinden, Stadtverwaltungen richten Ambulanzen zur Behandlung
von Geschlechtskrankheiten ein, die Prostitution wird durch Gesundheitsämter kontrolliert
(vgl. WzW 155f). Das Sexualitätsregime zielt jetzt im Namen der öffentlichen Hygiene
ebenfalls auf die unterprivilegierten Klassen. Die Psychoanalyse will das Heilmittel des
Bürgertums gegen die sexuelle Repression sein. Als bürgerliches Privileg soll der Ge-
ständnisdruck gegen die Verdrängung wirken und die Wahrheit ans Licht bringen (vgl.
WzW 157). Es ist nun geboten, über das Begehren zu sprechen, was die Macht scheinbar
verbietet. Auch dieser Zwang weitet sich bald auf die Arbeiterklasse aus. Das Inzesttabu
und die "Politik des Schutzes der Kindheit" (WzW 155) soll "gefährdete" Kinder aus
ihren Familien entfernen. Gegen eine "Entartung" der ländlichen Bevölkerung wendet
sich die Ausschließung der Inzestpraktik (vgl. WzW 155f). All diese Technologien kön-
nen nur durch eine funktionierende Repressionshypothese entstehen, welche die Bio-
Macht stärkt.

 

 

9. 4. Das Sexualitätsdispositiv:

Die Sexualität als ein mit Machtpraktiken versehener Diskurs wird etwa gegen Anfang
der 18. Jahrhunderts konstruiert und produziert (vgl. WzW 138). Dabei soll die Bevölke-
rung dazu angereizt werden, über ihren Sex zu sprechen (vgl. WzW 28). Mit der "Diskur-
sivierung des Sexes" (vgl. WzW 31) erfolgt die wissenschaftlich-empirische Analyse und
Klassifikation der sexuellen Aktivität (vgl. WzW 38ff). Religiöse Beichtpraktiken wer-
den zunehmend von den Demographen und Polizisten übernommen, um die Prostitution,
die Entwicklung der Bevölkerung sowie die Krankheitsraten zu verhören und zu erfor-
schen. Der Sex wird "Sache der Verwaltung" und zu einer "Angelegenheit der 'Polizei'"
(WzW 36). Es bilden sich neue wissenschaftliche Disziplinen, die der Pflege und der ge-
nauen Kontrolle der Bevölkerung dienen sollen. Geburtenrate, Heiratsalter, Anzahl der
Geschlechtsbeziehungen, Geschlechtsreife, Fruchtbarkeit, das Problem der Ehelosigkeit,
Empfängnisverhütung usw. werden von der "Polizei des Sexes" kontrolliert (vgl. WzW
38). "Der Sex ist [...] zum öffentlichen Einsatz zwischen Staat und Individuum geworden"
(WzW 39).

 

Seit Anfang des 19. Jahrhunderts wird die Sexualität zum Gegenstand einer eigenständi-
gen Medizin, die von der Medizin des Körpers abgetrennt ist. Dank der Isolierung des
sexuellen "Triebs" können jetzt Anomalien, Abweichungen, Hemmungen und pathologi-
sche Entwicklungen untersucht werden, ohne daß man ihnen organische Ursachen zuweist
(vgl. WzW 142). "Durch diesen 'wissenschaftlichen' Durchbruch [wird] die Sexualität an
eine mächtige Form des Wissens gebunden und eine Verbindung zwischen Individuum,
Gruppe, Bedeutung und Kontrolle geschaffen."

 

Jetzt trennt Michel Foucault "Sex" und "Sexualität". Bis zum 18. Jahrhundert waren
die Sexualbeziehungen in einem "Allianzdispositiv" geregelt, das durch das Heiratssystem
Standes- und Verwandtschaftsbeziehungen sowie die Güterverteilung verbindet. Das neue
Sexualitätsdispositiv meint dagegen ein System von Regelungen, "das das Erlaubte und
das Verbotene, das Vorgeschriebene und das Ungehörige definiert; das Sexualitätsdispo-
sitiv funktioniert vermittels mobiler, polymorpher und konjunktureller Machttechniken
[...]; das Sexualitätsdispositiv [...] führt zu einer permanenten Ausweitung der Kontroll-
bereiche und -formen" (WzW 128f). Das Sexualitätsdispositiv rückt zwar nicht an die
Stelle des Allianzdispositivs, aber es kommt zu einer Überlagerung (vgl. WzW 130). Se-
xualität wird zu einer persönlichen Angelegenheit, die man befragen muß, um darin seine
Identität zu erkennen. Der Sex "als besonders dichter Durchgangspunkt von Machtbezie-
hungen" (WzW 125) wird zum alles überragenden Sinn, zum Wesen des Menschen, das
durch Ärzte, Psychiater etc. aufgespürt werden kann.

 

Seit dem 18. Jahrhundert gibt es "vier strategische Komplexe" (WzW 125), die Macht-
und Wissensdispositive um den Sex aufbauen:

 

a) Die Hysterisierung des weiblichen Körpers: Der Körper der Frau gilt als völlig von der
Sexualität durchdrungen und wird dementsprechend analysiert. Ihr quasi pathologischer
Leib wird in medizinische Praktiken integriert und in eine organische Verbindung mit dem
Gesellschaftskörper gebracht. Die ihr zugewiesene sexuelle Identität soll die zukünftige
Gesundheit der Bevölkerung sichern. Das Bild der "Mutter" als "nervöser Frau" zeigt die
sichtbarste negative Ausprägung der Hysterisierung (vgl. WzW 126).

b) Die Pädagogisierung des kindlichen Sexes: Bei dieser Strategie geht man davon aus,
daß die sexuelle Aktivität des Kindes natürlich ist, sie aber auch "kollektive und individu-
elle Gefahren" (WzW 126) birgt. Die kindliche Masturbation wird zum Geheimnis, das
man erforschen muß und dem man den Krieg erklärt. Man zwingt die Kinder dazu, ihre
Lüste zu verstecken, um sie anschließend entdecken zu können (vgl. WzW 57). Die
Machtstrategien der Überwachung, Kontrolle, ständigen Moralisierung durch die Eltern,
die Familie, Ärzte, Erzieher und Psychologen erweist sich als erfolgreiche Taktik: "Auf
dieser Grundlage schreitet die Macht voran, vermehrt ihre Relaisstationen und Wirkungen,
währenddessen ihre Zielscheibe sich vergrößert, unterteilt, verzweigt und genau wie die
Macht selber tief in die Wirklichkeit eindringt" (WzW 57).

 

c) Die Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens: Diese Strategie vergesellschaftet
die sexuelle Aktivität, welche ökonomisch nützlich und politisch konservativ zu sein
hat (vgl. WzW 51). Die Empfängnis der Frau wird durch Förderung und Zügelung des
Sexualverhaltens der Paare geregelt werden. Das Paar soll sich für den gesamten Bevöl-
kerungskörper verantwortlich fühlen. Mangelnde Achtsamkeit (z. B. Inzest, häufiger Part-
nerwechsel) führt demnach zu Erbkrankheiten und Perversionen, die es zu unterbinden
gilt. Es entwickeln sich am Ende des 19. Jahrhunderts biologistisch-eugenische Wissen-
schaften. Diese gipfeln (im Gegensatz zur Psychoanalyse, welche sich von den rassisti-
schen Praktiken nie vereinnahmen läßt) im "Staatsrassismus" sowie der "Theorie der
Entartung" und Vererbung (vgl. WzW 143).

d) Die Psychiatrisierung der perversen Lüste: Ebenfalls am Ende des 19. Jahrhunderts
wird der "sexuelle Instinkt" als biologischer bzw. psychischer isoliert. Entweder funktio-
niert dieser "normal" und "natürlich", oder er ist pervertiert und muß normalisiert werden.
Die sexuelle Abweichung macht den Disparaten zur "Spezies" (WzW 58): Ein Mensch,
der homosexuelle Praktiken ausführt, wird zum "Homosexuellen", dessen gesamtes Ver-
halten danach befragt und beurteilt wird. Die Anomalie stiftet eine fixierte Identität. Sodo-
misten, "Mixoskophile", "Gynekomasten" und andere "kleine Perverse" (vgl. WzW 59)
werden klassifiziert, eingeordnet und normalisiert. Die "bürgerliche" Gesellschaft ist
eine der "blühendsten Perversionen" (WzW 63); in ihr werden die polymorphen Verhal-
tensweisen als verschiedenste identitätsstiftende Perversionen kategorisiert. Ironie dieser
Machtstrategie: Die "Anormalen" bezeichnen sich selbst mit den aufgezwungenen, disqua-
lifizierenden medizinischen Titulierungen der Sexualwissenschaftler und Psychiater (vgl.
WzW 122); sie betrachten ihr gesamtes Verhalten nur im Hinblick auf ihre signifikante
"Sexualität" (z. B.: "Ich als Homosexueller denke...") und halten dieses Dispositiv oftmals
für ihre "Befreiung" (vgl. WzW 190, vgl. DdM 184). Homosexuelle sind nach Ansicht
Foucaults - stärker noch als Frauen - auf ihre sexuelle Besonderheit festgenagelt (vgl.
DdM 161). Die "Einpflanzung von Perversionen" (WzW 64) und die Produktion von Se-
xualität richtet sich also nicht gegen die Macht, vielmehr ist sie ein "Instrument-Effekt"
(WzW 64), der das Verhalten durchdringt und ökonomische Profite (vermittels Medizin,
Psychiatrie, Prostitution, Pornographie und den Leuten, die ihre "Ohren vermieten"; vgl.
WzW 16) sichert.

Allen vier Strategien (bzw. "Kraftfeldern") ist die Verknüpfung von Lust und Macht
gemeinsam. Es handelt sich dabei um eine "Lust, Macht auszuüben" (WzW 61), indem
man diskursiviert und kontrolliert, und eine "Lust [...], dieser Macht entrinnen zu müssen"
(ebd.), indem man vor ihr flieht oder sie lächerlich macht. Es entstehen "Reizkreise", "un-
aufhörliche Spiralen der Macht und der Lust" (ebd.), die durch die inquisitorische Anhäu-
fung von Wissen (der Familien und Experten) sowie durch das zögerliche Bekenntnis (der
Kinder, Perversen, Patienten und Frauen) verstärkt und angetrieben werden.

 

Die Sexualität wird einerseits als das Andere der herrschenden Kultur betrachtet, auf der
anderen Seite ist das diskursivierende Sexualitätsdispositiv der "Inbegriff der herrschen-
den Kultur" (vgl. WzW 182). Gerade aus diesem Grund ist das Dispositiv so interessant
für Foucaults Machtanalyse.

 

 

 

9. 5. Zusammenfassung:

Die vier Strategien der Macht, die sich um die Frau, den Perversen, das Kind und das
Paar ansammeln (vgl. DdM 101), gruppieren sich um die zwei Kraftzentren der Diszipli-
nen und Regulierungen. Mit den Disziplinen sind all jene Technologien gemeint, die nor-
malisierend und größtenteils nicht-diskursiv das Körperverhalten bearbeiten. Unter die
Bevölkerungsregulierungen faßt Foucault die globalen Technologien, die meist diskursiv
auf den Gesellschaftskörper einwirken. Beide Kraftzentren erfassen jedes Individuum
durch subjektlose Strategien (vgl. DdM 132f) und wirken an den verschiedensten Orten
und Institutionen: in Schulen, Arztpraxen, Kliniken, Gefängnissen, Familien, Psychiatrien,
Kasernen, Sozial-, Jugend- und Gesundheitsämtern, Gerichten, Polizeistationen, Fabriken,
Labors, Sportstätten, Architekturbüros, den Universitäten usw. Zusammen verschränken
sie sich zur diskursiven und nicht-diskursiven, sichtbaren und unsichtbaren netzförmigen
Bio-Macht, die alle Bereiche des Alltags umfaßt. Sie hat das Vertragsmodell und die sou-
veräne Macht überdeckt und zielt nicht auf einen juristischen Gegner des Souveräns. Die
Macht wird gleichwohl immer noch auf die Repräsentation des Rechts zurückgeführt.
Foucault zufolge ist "[i]m politischen Denken und in der politischen Analyse [...] der Kopf
des Königs noch immer nicht gerollt" (WzW 110).

Das Leben soll durch Machttechniken vor "biologischen Gefahren" geschützt werden.
Foucault sieht darin den Grund für Rassismus, Holocaust, Eugenik, Antisemitismus, die
Problematik der "Entartung" und "Rassenhygiene" sowie für Kriege im Namen der Popu-
lation (vgl. WzW 70f, 143, 146, 164, 177; vgl. VdG 76ff, 99f, 295ff). Auf der anderen
Seite findet eine "Verweichlichung des gesellschaftlichen Lebens" statt: z. B. ist die
Todesstrafe in vielen Ländern der Welt abgeschafft worden, weil man sie als zu grausam
ansieht. Atommächte können dagegen ganze "Bevölkerungen" im Namen des Lebens, der
Gattung, der Rasse auslöschen (vgl. WzW 164, VdG 293). Der Widerstand gegen diese
Macht des Lebens kann nur durch eine widerständige Lebensführung wirksam sein.
Vielleicht leben wir noch nicht in einer "Disziplinargesellschaft", in der wirklich jeder
Punkt von den Technikern der Disziplinen und der Regulierungen kontrolliert wird, um
den (Gesellschafts-)Körper zu ordnen und zu zwingen. Foucault spricht noch von einem
"militärischen Träumen". Die "Einschließungsmacht", die tatsächlich jeden kleinsten
Winkel in und um uns abdeckt und die "Ausschließungsmacht" ablöst, ist für den Genea-
logen eine "Zwangsutopie", eine "Fiktion", die viele Fragen offen läßt: "Was an dem,
was ich geschrieben habe, ungewiß ist, das ist ganz gewiß ungewiß" (DdM 118).

Dieser Eindruck wird besonders bei Der Wille zum Wissen dadurch verstärkt, daß Fou-
cault kaum Text- oder Quellenbelege für seine Behauptungen angibt. Ein Grund dafür
kann allerdings sein, daß er ursprünglich sechs Bände über die "Geschichte der Sexualität"
plante (vgl. DdM 143), von denen allerdings einer wegen Erbschaftsstreitigkeiten noch
nicht veröffentlicht ist (Die Geständnisse des Fleisches; frz. Les aveux de la chair) und
die anderen beiden nie über das Planungsstadium hinauskamen. Der erste Band ist viel-
leicht nur eine Programmschrift (vgl. DdM 118), die angibt, was später noch durch genaue
archivarische Analysen hätte erklärt werden können, wenn er nicht so früh gestorben
wäre. Zum anderen verwarf Foucault oft Projekte, die ihn nicht mehr interessierten.