Zunächst einmal muß gesagt werden, daß Michel
Foucault im ersten Band von Sexualität
und Wahrheit (Der Wille zum Wissen) nicht behauptet, daß
es "keine Unterdrückung der
Sexualität gegeben" (WzW 8) hat. Diese Hypothese ist nicht völlig
falsch, sondern viel
zu einfach. Es geht ihm schlicht um die Frage, "ob man zur Entschlüsselung
der Bezie-
hungen zwischen Macht, Wissen und dem Sex die gesamte Analyse am Begriff der
Re-
pression orientieren" (ebd.) muß. Entgegen der Repressionshypothese, die
besagt, daß die
Wahrheit (des Sexes) zuerst der Macht entgegengesetzt ist und uns befreit, argumentiert
Foucault, daß die Wahrheit immer schon von der Macht besetzt ist (vgl.
MdM 44). In
seiner Analyse möchte er dem Problem nachgehen, inwiefern in den modernen
Gesell-
schaften "die Produktion von Diskursen, die [...] mit einem bestimmten Wahrheitswert
geladen sind, an die unterschiedlichen Machtmechanismen und -instutionen gebunden"
(WzW 8) ist.
In der Repressionshypothese behaupten die Sprecher, daß
wir uns historisch - in bezug
auf den Sex - "von einer Periode relativer Offenheit hinsichtlich unseres
Körpers und un-
seres Sprechens auf zunehmende Repression hin bewegen." Demnach, so meinen
die
Vertreter dieser Auffassung, hätte es im 17. Jahrhundert noch eine völlige
Freiheit ge-
geben: "Direkte Gesten, schamlose Reden, sichtbare Überschreitungen,
offen zur Schau
gestellte und bunt durcheinandergewürfelte Anatomien, gewitzte Kinder,
[...] 'radschlagen-
de Körper'" (WzW 11). Doch seit Mitte des 19. Jahrhunderts wäre
es zu einer dramati-
schen Veränderung des freizügigen Diskurses und der offenbarten Körper
gekommen:
Nun folgten, dieser Ansicht zufolge, "die monotonen Nächte des viktorianischen
Bürger-
tums" (WzW 11). Der kümmerliche Rest, der von der Sexualität
übriggeblieben war, wur-
de demnach nur noch heimlich zwischen den Eltern vollzogen. Sex wurde zensiert,
ver-
schwiegen, langweilig und zweckbestimmt. Angeblich wäre er nur auf Reproduktion
aus-
gerichtet; die Rede darüber einem heuchlerischen Code unterworfen. Der
Sex des Purita-
nismus unterlag scheinbar einem Kodex, der untersagt, schweigt oder ihn nicht-existent
macht (vgl. WzW 13).
Die Repressionshypothese wird für viele der Sprecher,
die sie verkünden, deshalb so in-
teressant, weil sich diese Sichtweise hervorragend mit der Ausbreitung des Kapitalismus
verbinden läßt: "Sex wurde unterdrückt, weil er mit der
von der kapitalistischen Ordnung
erforderten Arbeitsethik unvereinbar war" (vgl. WzW 14), denn die Unterdrückung
ist
die Herrschaftsform des Kapitalismus, die keine unnötige Verschwendung
von Energien
zulassen darf.
Foucault nimmt dagegen keineswegs an, daß es eine übergeschichtliche,
überkulturelle,
"eigentliche" oder "wahre" Sexualität gibt, die befreit werden muß.
Die Sexualität ist
immer schon an spezifische Machtformen gekoppelt. Sexualität hat in der
abendländi-
schen Zivilisation eine solche Wichtigkeit, daß sie immer wieder problematisiert
wird,
gerade weil sie an die Macht gebunden ist: "Möglicherweise reden wir mehr
vom Sex als
von jeder anderen Sache; [...] wir glauben, daß uns das Wesentliche dauernd
entgeht und
wir darum stets aufs Neue seine Spur aufnehmen müssen" (WzW 46).
Diejenigen, die vom unterdrückten Sex und der unterdrückenden
Macht reden, erhof-
fen sich allerdings einen Gewinn davon und träumen vom "neuen Jerusalem":
Wer diese Sprache spricht, entzieht sich bis zu einem gewissen
Punkt der
Macht, er kehrt das Gesetz um und antizipiert ein kleines Stück der Freiheit.
[...] Den Mächtigen widersprechen, die Wahrheit sagen
und den Genuß ver-
sprechen; Aufklärung, Befreiung und vervielfachte Wollüste aneinanderbin-
den; einen Diskurs halten, in dem die Wißbegierde, der Wille zur Änderung
des Gesetzes und der erhoffte Garten der Lüste verschmelzen [...] (WzW
15f).
Die Prediger der Repressionshypothese sind noch dem Modell
der souveränen Macht ver-
bunden, welche die Machtwirkungen lediglich als zwingend, negierend und beschränkend
auffaßt. Die unterdrückende Macht bekämpft demnach die Wahrheit,
weil sie nur durch
ihre fälschliche Ideologie bestehen kann. In der Schlacht gegen die Macht
muß man sich
mit Wahrheit rüsten. Für Foucault ist Sex indessen "nicht über
die Unterdrückung an die
Macht gebunden" (WzW 17). Er wendet sich damit auch gegen Jürgen Habermas,
der mit
einer transzendentalen Vernunft kritisch gegen die Herrschaft und das Gesetz
der Unter-
drückung vorgehen will. Der Genealoge bestreitet - wie schon oben erwähnt
- diese voll-
kommen negative, "juridisch-diskursive" (WzW 102, vgl. DdM 71) Vorstellung von
Macht. Dem genealogischen Philosophen ist selbstverständlich auch klar,
daß sein Diskurs
der Diskurs eines Intellektuellen ist, der als solcher in den bestehenden Machtnetzen
funk-
tioniert (vgl. MdM 53). Als Analytiker predigt er keinem Menschen, was die heilsbrin-
gende "Wahrheit", die "Befreiung" oder der "gute Sex" (WzW 16) ist.
Foucault führt in Der Wille zum Wissen den Begriff
"Dispositiv" ein, der von nun an
die diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken innerhalb des Macht-Wissen-Komplexes
(vgl. Schema 4) kennzeichnet. Er versteht darunter ein "entschieden heterogenes
En-
semble, das Diskurs, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende
Ent-
scheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen,
philoso-
phische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl
wie
Ungesagtes umfaßt" (DdM 120). Der Dispositivbegriff stellt eine Raster
von ungleichen,
beweglichen, materiellen Machtbeziehungen dar. Das Dispositiv verknüpft
die Vielzahl
der Elemente zu einem Netz, in dem es immer wieder zu Transformationen der Funktion
und Positionsänderungen kommen kann. Es funktioniert zumeist strategisch,
um bei einer
bestimmten historischen Situation (z. B. einem Notstand) wirkungsvoll zu reagieren
(vgl.
DdM 120). Bei der strategischen Wiederauffüllung eines Dispositivs geht
es darum, ne-
gative Entwicklungen (z. B. die Resozialisierung der Straffälligen schlägt
fehl) ins Posi-
tive umzukehren (z. B. Nutzbarmachung der Delinquenz). Die Strategie greift
in die Kräf-
teverhältnisse ein, um zu blockieren, zu produzieren, zu manipulieren,
nutzbar zu machen
(vgl. DdM 122f). Sie stützt sowohl Typen von Macht als auch von Wissen.
Dispositive
haben nur eine lokale Verständlichkeit innerhalb eines insgesamt bedeutungslosen
Krie-
ges, d. h. die Taktiken machen nur bei einem spezifischen Konflikt Sinn.
Das Dispositiv unterscheidet sich vom Epistem, welches Foucault
in Die Ordnung
der Dinge einführte, dadurch, daß es auch nicht-diskursive
Strategien berücksichtigt. "Institu-
tionen" sind für den französischen Philosophen "aufgezwungene, eingeübte
Verhalten[s-
weisen], [...] [a]lles was in einer Gesellschaft als Zwangssystem funktioniert
und keine
Aussage ist" (DdM 125). Die Institution bezeichnet "alles nicht-diskursive Soziale"
(DdM
125) innerhalb eines Dispositivs. Unter Dispositiv muß man, Foucault zufolge,
die Maß-
nahmen innerhalb eines Apparates verstehen, die nötig sind, um eine Strategie
erfolgreich
durchzusetzen (vgl. WzW 35).
Das Nicht-diskursive läßt sich allerdings nur sehr
schwer historisch untersuchen, da man
es nur auf der Metaebene darstellen kann. Nicht-diskursive Dispositive (wie
z. B. eine Ar-
chitektur, Ordnungen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit) kann man nur dann
geschicht-
lich analysieren, wenn sie diskursiv in Aussagen niedergelegt sind. Nicht-diskursives,
das
nur vermittelt zugänglich ist, wird erst durch Diskursivitäten sichtbar.
Ebenso wie der Diskursbegriff ist auch die Kategorie des Dispositivs
sehr ungenau.
Heike Raab bemerkt, daß die "mangelnde Präzision von Foucaults Hauptkategorien"
oft-
mals "den Eindruck eines diffusen 'alles hängt irgendwie mit allem zusammen'"
er-
weckt. Vielleicht betont Foucault auch deshalb so sehr das Heterogene, weil
er sich
nicht auf eine "Formel" z. B. für die Macht festlegen will (DdM 208). Foucault
befindet
sich ja selbst immer innerhalb des Machtnetzes, deshalb sind seine Auffassungen
über
bestimmte Begriffe einer historischen Veränderung unterworfen. Vorwürfe,
daß die un-
genauen Kategorien hin und wieder das Gefühl vermitteln, er wäre nicht
ganz wissen-
schaftlich, hätte er damals eventuell sogar billigend - und mit einem Lächeln
- in Kauf ge-
nommen.
Etwa seit dem 17. Jahrhundert kommt die politische Technologie
der Bio-Macht auf.
Die Aufrechterhaltung des Lebens sowie das Wachstum und die Gesundheit der Bevölke-
rungen werden zu einer zentralen Angelegenheit des Staates, der einen neuen
Typ der po-
litischen Rationalität entwickelt. Die Theorien der Gesellschaftsvertrags,
der Souveränität
und des Naturrechts maskieren die tatsächlichen Transformationen der modernen
Macht-
praktiken: "[N]ur unter der Bedingung, daß sie einen wichtigen Teil ihrer
selbst verschlei-
ert, ist die Macht erträglich. Ihr Durchsetzungserfolg entspricht ihrem
Vermögen, ihre Me-
chanismen zur verbergen" (WzW 107). Mitte des 17. Jahrhunderts entsteht mit
der neuen
politischen und technischen Rationalität die "wissenschaftliche", empirische
Untersu-
chung von geschichtlichen, demographischen und geographischen Bedingungen durch
die
Sozialwissenschaften. Diese Wissenschaften der Verwaltung verbinden sich mit
der "Bio-
Macht" bzw. der "Bio-Politik". Die Bio-Politik bezeichnet eine wohl kalkulierte
Verwand-
lung des Macht-Wissen-Komplexes in einen "Transformationsagenten menschlichen
Le-
bens" (vgl. WzW 170).
Die moderne Machttechnologie zielt auf das Leben: "Der
moderne Mensch ist ein Tier,
in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht" (WzW 171).
Das Biolo-
gische spiegelt sich im Politischen wider: Anhand von naturwissenschaftlichen
Kategorien
wie "Spezies" und "Bevölkerung" will man die Menschen
untersuchen. Die menschliche
Fortpflanzung wird zum Gegenstand der neuen Wissenschaften.
Der zweite Technologie der Bio-Macht richtet sich auf die Verwaltung
und Manipu-
lation der Körper zur "rechnerischen Planung des Lebens" (WzW
167). Die - hier schon
vorgestellte - Disziplinarmacht stellt fügsame, produktive und gelehrige
Körper her, um
die Nützlichkeit und Fügsamkeit der Individuen und der Bevölkerung
zu gewährleisten.
Das Aufkommen des Kapitalismus ist an die Ausweitung der Disziplinartechnologien
ge-
koppelt: "Diese Bio-Macht war gewiß ein unerläßliches
Element bei der Entwicklung des
Kapitalismus, der ohne kontrollierte Einschaltung der Körper in die Produktionsapparate
und ohne Anpassung der Bevölkerungsphänomene an die ökonomischen
Prozesse nicht
möglich gewesen wäre" (WzW 168).
Die gleiche Zielsetzung hat die Normalisierungsmacht bei den
Individuen: "Eine Macht,
die das Leben zu sichern hat, bedarf fortlaufender, regulierender und korrigierender
Me-
chanismen.[...] [Die] Macht muß eher qualifizieren, messen, abschätzen,
abstufen, als sich
in einem Ausbruch manifestieren" (WzW 171f, vgl. DdM 170). Die Normalisierungs-
gesellschaft wird zum Effekt einer auf die Sicherung des Lebens ausgerichteten
Macht-
technologie (vgl. WzW 172).
Das administrative Wissen der Bio-Macht zielt auf den Staat
als Selbstzweck, es soll
die "besondere Natur eines besonderen historischen Staates" kennzeichnen. Die
Re-
gierung braucht ein Wissen, das durch Erziehung, Demographie, Tabellierung und
Stati-
stik alles über Ressourcen, Einwohnerzahl, Reichtum und Empfindungen der
Einwohner
eines Staates ausforscht (vgl. WzW 167). Die regulierende Bio-Politik der Bevölkerung
in-
teressiert sich für die Fortpflanzung, die Sterblichkeits- und Geburtenrate,
den Gesund-
heitsstandard, die Fruchtbarkeit, Krankheitshäufigkeit, Ernährung,
Wohnverhältnisse und
die Lebensdauer. Zum ökonomischen und politischen Problem wird die Bevölkerung
(vgl.
WzW 37), deren Leben zunehmend verstaatlicht wird (vgl. Staat 69).
An die Stelle der alten, souveränen "Todesmacht" des Feudalismus
(der "Gesellschaft
des Blutes"), die das "Recht über Leben und Tod" (WzW 161) besaß,
treten nun die beiden
Pole der Bio-Macht: Disziplinarmacht und Bio-Politik, denen die "Macht zum Leben"
ge-
meinsam ist (vgl. Schema 5). Bindeglied zwischen den zwei Teilen der
Bio-Macht ist die
"Sexualität", da durch sie sowohl Zugang zur Disziplinierung des Körper
wie auch zur Re-
gulierung der Gattung ermöglicht wird ("Gesellschaft des Geschlechts").
"Somit bietet
der Bereich der Sexualität das ideale Fundament zur Disziplinierung und
Regulierung von
Menschen."
Darauf kommt es zu einer Diskursexplosion, welche der Lebenskraft
des menschlichen
Körpers dienen soll. Die "Techniken der Maximalisierung des Lebens"
kümmern sich um
"den Körper, die Stärke, die Langlebigkeit, die Zeugungskraft
und die Nachkommenschaft
der 'herrschenden' Klassen" (WzW 148). Die mittleren Klassen wollen sich
vom Adel und
dessen Blutsymbolik abgrenzen. Ihr "Blut" ist nun der Sex (vgl. WzW
150). Zugleich ver-
läuft die Grenzziehung auch zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse.
Das Bür-
gertum hat lange gezögert, ihnen den bürgerlichen Sex und eine Körper
zuzugestehen, das
Sexualitätsdispositiv soll nur ihm zur Stärkung, zur Fortpflanzung
und zum weiteren Fort-
bestand dienen (vgl. WzW 151). Ende des 19. Jahrhunderts wird von den Moralisten
vor
Gefahren gewarnt; verstärkte Aufmerksamkeit, Unterdrückung und Verheimlichung
wer-
den angeraten. Der Sex gilt nun als Geheimnis, dessen Wahrheit immerzu aufgespürt
wer-
den muß, da sie so lange verschwiegen wurde (vgl. WzW 154f). "Sex
als Bedeutung dehnt
sich nun zu Sex als administrative Kontrolle aus."
Soziale Wohlfahrtsprogramme werden organisiert, Erziehungsgesellschaften
versuchen
Inzestpraktiken zu unterbinden, Stadtverwaltungen richten Ambulanzen zur Behandlung
von Geschlechtskrankheiten ein, die Prostitution wird durch Gesundheitsämter
kontrolliert
(vgl. WzW 155f). Das Sexualitätsregime zielt jetzt im Namen der öffentlichen
Hygiene
ebenfalls auf die unterprivilegierten Klassen. Die Psychoanalyse will das Heilmittel
des
Bürgertums gegen die sexuelle Repression sein. Als bürgerliches Privileg
soll der Ge-
ständnisdruck gegen die Verdrängung wirken und die Wahrheit ans Licht
bringen (vgl.
WzW 157). Es ist nun geboten, über das Begehren zu sprechen, was die Macht
scheinbar
verbietet. Auch dieser Zwang weitet sich bald auf die Arbeiterklasse aus. Das
Inzesttabu
und die "Politik des Schutzes der Kindheit" (WzW 155) soll "gefährdete"
Kinder aus
ihren Familien entfernen. Gegen eine "Entartung" der ländlichen
Bevölkerung wendet
sich die Ausschließung der Inzestpraktik (vgl. WzW 155f). All diese Technologien
kön-
nen nur durch eine funktionierende Repressionshypothese entstehen, welche die
Bio-
Macht stärkt.
Die Sexualität als ein mit Machtpraktiken versehener Diskurs
wird etwa gegen Anfang
der 18. Jahrhunderts konstruiert und produziert (vgl. WzW 138). Dabei soll die
Bevölke-
rung dazu angereizt werden, über ihren Sex zu sprechen (vgl. WzW 28). Mit
der "Diskur-
sivierung des Sexes" (vgl. WzW 31) erfolgt die wissenschaftlich-empirische Analyse
und
Klassifikation der sexuellen Aktivität (vgl. WzW 38ff). Religiöse
Beichtpraktiken wer-
den zunehmend von den Demographen und Polizisten übernommen, um die Prostitution,
die Entwicklung der Bevölkerung sowie die Krankheitsraten zu verhören
und zu erfor-
schen. Der Sex wird "Sache der Verwaltung" und zu einer "Angelegenheit der 'Polizei'"
(WzW 36). Es bilden sich neue wissenschaftliche Disziplinen, die der Pflege
und der ge-
nauen Kontrolle der Bevölkerung dienen sollen. Geburtenrate, Heiratsalter,
Anzahl der
Geschlechtsbeziehungen, Geschlechtsreife, Fruchtbarkeit, das Problem der Ehelosigkeit,
Empfängnisverhütung usw. werden von der "Polizei des Sexes" kontrolliert
(vgl. WzW
38). "Der Sex ist [...] zum öffentlichen Einsatz zwischen Staat und Individuum
geworden"
(WzW 39).
Seit Anfang des 19. Jahrhunderts wird die Sexualität zum
Gegenstand einer eigenständi-
gen Medizin, die von der Medizin des Körpers abgetrennt ist. Dank der Isolierung
des
sexuellen "Triebs" können jetzt Anomalien, Abweichungen, Hemmungen und
pathologi-
sche Entwicklungen untersucht werden, ohne daß man ihnen organische Ursachen
zuweist
(vgl. WzW 142). "Durch diesen 'wissenschaftlichen' Durchbruch [wird] die Sexualität
an
eine mächtige Form des Wissens gebunden und eine Verbindung zwischen Individuum,
Gruppe, Bedeutung und Kontrolle geschaffen."
Jetzt trennt Michel Foucault "Sex" und "Sexualität". Bis
zum 18. Jahrhundert waren
die Sexualbeziehungen in einem "Allianzdispositiv" geregelt, das durch
das Heiratssystem
Standes- und Verwandtschaftsbeziehungen sowie die Güterverteilung verbindet.
Das neue
Sexualitätsdispositiv meint dagegen ein System von Regelungen, "das das
Erlaubte und
das Verbotene, das Vorgeschriebene und das Ungehörige definiert; das Sexualitätsdispo-
sitiv funktioniert vermittels mobiler, polymorpher und konjunktureller Machttechniken
[...]; das Sexualitätsdispositiv [...] führt zu einer permanenten
Ausweitung der Kontroll-
bereiche und -formen" (WzW 128f). Das Sexualitätsdispositiv rückt
zwar nicht an die
Stelle des Allianzdispositivs, aber es kommt zu einer Überlagerung (vgl.
WzW 130). Se-
xualität wird zu einer persönlichen Angelegenheit, die man befragen
muß, um darin seine
Identität zu erkennen. Der Sex "als besonders dichter Durchgangspunkt von
Machtbezie-
hungen" (WzW 125) wird zum alles überragenden Sinn, zum Wesen des Menschen,
das
durch Ärzte, Psychiater etc. aufgespürt werden kann.
Seit dem 18. Jahrhundert gibt es "vier strategische Komplexe"
(WzW 125), die Macht-
und Wissensdispositive um den Sex aufbauen:
a) Die Hysterisierung des weiblichen Körpers: Der
Körper der Frau gilt als völlig von der
Sexualität durchdrungen und wird dementsprechend analysiert. Ihr quasi
pathologischer
Leib wird in medizinische Praktiken integriert und in eine organische Verbindung
mit dem
Gesellschaftskörper gebracht. Die ihr zugewiesene sexuelle Identität
soll die zukünftige
Gesundheit der Bevölkerung sichern. Das Bild der "Mutter" als
"nervöser Frau" zeigt die
sichtbarste negative Ausprägung der Hysterisierung (vgl. WzW 126).
b) Die Pädagogisierung des kindlichen Sexes: Bei
dieser Strategie geht man davon aus,
daß die sexuelle Aktivität des Kindes natürlich ist, sie aber
auch "kollektive und individu-
elle Gefahren" (WzW 126) birgt. Die kindliche Masturbation wird zum Geheimnis,
das
man erforschen muß und dem man den Krieg erklärt. Man zwingt die
Kinder dazu, ihre
Lüste zu verstecken, um sie anschließend entdecken zu können
(vgl. WzW 57). Die
Machtstrategien der Überwachung, Kontrolle, ständigen Moralisierung
durch die Eltern,
die Familie, Ärzte, Erzieher und Psychologen erweist sich als erfolgreiche
Taktik: "Auf
dieser Grundlage schreitet die Macht voran, vermehrt ihre Relaisstationen und
Wirkungen,
währenddessen ihre Zielscheibe sich vergrößert, unterteilt,
verzweigt und genau wie die
Macht selber tief in die Wirklichkeit eindringt" (WzW 57).
c) Die Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens:
Diese Strategie vergesellschaftet
die sexuelle Aktivität, welche ökonomisch nützlich und politisch
konservativ zu sein
hat (vgl. WzW 51). Die Empfängnis der Frau wird durch Förderung und
Zügelung des
Sexualverhaltens der Paare geregelt werden. Das Paar soll sich für den
gesamten Bevöl-
kerungskörper verantwortlich fühlen. Mangelnde Achtsamkeit (z. B.
Inzest, häufiger Part-
nerwechsel) führt demnach zu Erbkrankheiten und Perversionen, die es zu
unterbinden
gilt. Es entwickeln sich am Ende des 19. Jahrhunderts biologistisch-eugenische
Wissen-
schaften. Diese gipfeln (im Gegensatz zur Psychoanalyse, welche sich von den
rassisti-
schen Praktiken nie vereinnahmen läßt) im "Staatsrassismus"
sowie der "Theorie der
Entartung" und Vererbung (vgl. WzW 143).
d) Die Psychiatrisierung der perversen Lüste: Ebenfalls
am Ende des 19. Jahrhunderts
wird der "sexuelle Instinkt" als biologischer bzw. psychischer isoliert.
Entweder funktio-
niert dieser "normal" und "natürlich", oder er ist
pervertiert und muß normalisiert werden.
Die sexuelle Abweichung macht den Disparaten zur "Spezies" (WzW 58):
Ein Mensch,
der homosexuelle Praktiken ausführt, wird zum "Homosexuellen",
dessen gesamtes Ver-
halten danach befragt und beurteilt wird. Die Anomalie stiftet eine fixierte
Identität. Sodo-
misten, "Mixoskophile", "Gynekomasten" und andere "kleine
Perverse" (vgl. WzW 59)
werden klassifiziert, eingeordnet und normalisiert. Die "bürgerliche"
Gesellschaft ist
eine der "blühendsten Perversionen" (WzW 63); in ihr werden die
polymorphen Verhal-
tensweisen als verschiedenste identitätsstiftende Perversionen kategorisiert.
Ironie dieser
Machtstrategie: Die "Anormalen" bezeichnen sich selbst mit den aufgezwungenen,
disqua-
lifizierenden medizinischen Titulierungen der Sexualwissenschaftler und Psychiater
(vgl.
WzW 122); sie betrachten ihr gesamtes Verhalten nur im Hinblick auf ihre signifikante
"Sexualität" (z. B.: "Ich als Homosexueller denke...")
und halten dieses Dispositiv oftmals
für ihre "Befreiung" (vgl. WzW 190, vgl. DdM 184). Homosexuelle
sind nach Ansicht
Foucaults - stärker noch als Frauen - auf ihre sexuelle Besonderheit festgenagelt
(vgl.
DdM 161). Die "Einpflanzung von Perversionen" (WzW 64) und die Produktion
von Se-
xualität richtet sich also nicht gegen die Macht, vielmehr ist sie ein
"Instrument-Effekt"
(WzW 64), der das Verhalten durchdringt und ökonomische Profite (vermittels
Medizin,
Psychiatrie, Prostitution, Pornographie und den Leuten, die ihre "Ohren
vermieten"; vgl.
WzW 16) sichert.
Allen vier Strategien (bzw. "Kraftfeldern") ist die
Verknüpfung von Lust und Macht
gemeinsam. Es handelt sich dabei um eine "Lust, Macht auszuüben"
(WzW 61), indem
man diskursiviert und kontrolliert, und eine "Lust [...], dieser Macht
entrinnen zu müssen"
(ebd.), indem man vor ihr flieht oder sie lächerlich macht. Es entstehen
"Reizkreise", "un-
aufhörliche Spiralen der Macht und der Lust" (ebd.), die durch
die inquisitorische Anhäu-
fung von Wissen (der Familien und Experten) sowie durch das zögerliche
Bekenntnis (der
Kinder, Perversen, Patienten und Frauen) verstärkt und angetrieben werden.
Die Sexualität wird einerseits als das Andere der herrschenden
Kultur betrachtet, auf der
anderen Seite ist das diskursivierende Sexualitätsdispositiv der "Inbegriff
der herrschen-
den Kultur" (vgl. WzW 182). Gerade aus diesem Grund ist das Dispositiv so interessant
für Foucaults Machtanalyse.
Die vier Strategien der Macht, die sich um die Frau, den Perversen,
das Kind und das
Paar ansammeln (vgl. DdM 101), gruppieren sich um die zwei Kraftzentren der
Diszipli-
nen und Regulierungen. Mit den Disziplinen sind all jene Technologien gemeint,
die nor-
malisierend und größtenteils nicht-diskursiv das Körperverhalten
bearbeiten. Unter die
Bevölkerungsregulierungen faßt Foucault die globalen Technologien,
die meist diskursiv
auf den Gesellschaftskörper einwirken. Beide Kraftzentren erfassen jedes
Individuum
durch subjektlose Strategien (vgl. DdM 132f) und wirken an den verschiedensten
Orten
und Institutionen: in Schulen, Arztpraxen, Kliniken, Gefängnissen, Familien,
Psychiatrien,
Kasernen, Sozial-, Jugend- und Gesundheitsämtern, Gerichten, Polizeistationen,
Fabriken,
Labors, Sportstätten, Architekturbüros, den Universitäten usw.
Zusammen verschränken
sie sich zur diskursiven und nicht-diskursiven, sichtbaren und unsichtbaren
netzförmigen
Bio-Macht, die alle Bereiche des Alltags umfaßt. Sie hat das Vertragsmodell
und die sou-
veräne Macht überdeckt und zielt nicht auf einen juristischen Gegner
des Souveräns. Die
Macht wird gleichwohl immer noch auf die Repräsentation des Rechts zurückgeführt.
Foucault zufolge ist "[i]m politischen Denken und in der politischen Analyse
[...] der Kopf
des Königs noch immer nicht gerollt" (WzW 110).
Das Leben soll durch Machttechniken vor "biologischen
Gefahren" geschützt werden.
Foucault sieht darin den Grund für Rassismus, Holocaust, Eugenik, Antisemitismus,
die
Problematik der "Entartung" und "Rassenhygiene" sowie für
Kriege im Namen der Popu-
lation (vgl. WzW 70f, 143, 146, 164, 177; vgl. VdG 76ff, 99f, 295ff). Auf der
anderen
Seite findet eine "Verweichlichung des gesellschaftlichen Lebens"
statt: z. B. ist die
Todesstrafe in vielen Ländern der Welt abgeschafft worden, weil man sie
als zu grausam
ansieht. Atommächte können dagegen ganze "Bevölkerungen"
im Namen des Lebens, der
Gattung, der Rasse auslöschen (vgl. WzW 164, VdG 293). Der Widerstand gegen
diese
Macht des Lebens kann nur durch eine widerständige Lebensführung wirksam
sein.
Vielleicht leben wir noch nicht in einer "Disziplinargesellschaft",
in der wirklich jeder
Punkt von den Technikern der Disziplinen und der Regulierungen kontrolliert
wird, um
den (Gesellschafts-)Körper zu ordnen und zu zwingen. Foucault spricht noch
von einem
"militärischen Träumen". Die "Einschließungsmacht",
die tatsächlich jeden kleinsten
Winkel in und um uns abdeckt und die "Ausschließungsmacht" ablöst,
ist für den Genea-
logen eine "Zwangsutopie", eine "Fiktion", die viele Fragen
offen läßt: "Was an dem,
was ich geschrieben habe, ungewiß ist, das ist ganz gewiß ungewiß"
(DdM 118).
Dieser Eindruck wird besonders bei Der Wille zum Wissen
dadurch verstärkt, daß Fou-
cault kaum Text- oder Quellenbelege für seine Behauptungen angibt. Ein
Grund dafür
kann allerdings sein, daß er ursprünglich sechs Bände über
die "Geschichte der Sexualität"
plante (vgl. DdM 143), von denen allerdings einer wegen Erbschaftsstreitigkeiten
noch
nicht veröffentlicht ist (Die Geständnisse des Fleisches; frz.
Les aveux de la chair) und
die anderen beiden nie über das Planungsstadium hinauskamen. Der erste
Band ist viel-
leicht nur eine Programmschrift (vgl. DdM 118), die angibt, was später
noch durch genaue
archivarische Analysen hätte erklärt werden können, wenn er nicht
so früh gestorben
wäre. Zum anderen verwarf Foucault oft Projekte, die ihn nicht mehr interessierten.