Topographie
Heute sehe ich dich anders an. Ich betrachte deinen entblößten Körper, der nun vor mir liegt wie ein Blatt. Mit zitternder Hand zeichne ich die Grenzen ein: hier geht es - von der Sehnsucht getrieben - durch das Geflecht in die Steppe des goldnen Landes, dort hinunter zum Kinnland. Dazwischen noch das blauende Augistan, Nasien und das heiße Mundien, wo alle Gesänge verstummt sind. Nach Westen und Osten erstreckt sich der Ohrient. Ich wandre durch glänzende Gräser. Hinter der Halsbrücke teilt sich die Welt in drei Straßen: der Mittelweg führt durch ein aufragendes Gebirge; die andern beiden Pfade trennen sich nochmals und führen dann ins Nichts. Vor den letzten zwei Wegen soll ich mich hüten, sonst besteht die Gefahr, daß man mich zerdrückt. Bei den Armen ist es oft gefährlich! Auf den beiden Spitzen der Hügel habe ich schon ein Gipfelkreuz errichtet und eine Fahne befestigt. Bald entdecke ich den westlichen Gehweg zur andern Seite der Welt, wo es dunkelt. Der Meridian soll dein Nabel sein, den ich umrunde, ohne daß er mich ver- schlingt und in den tiefen Strudel reißt. Das Land im Süden nenne ich "Geheimnisland" und streiche dann über deine Schenkel bis zu den Inselgruppen, die mich zum Ende führen. Jede Leidenschaft ist mir dabei abhanden gekommen. Ich benenne deine sämtlichen Glieder, jeder Nerv wird eingezeichnet und kartiert. Nichts soll vergessen sein, kein Teil unentdeckt bleiben, bevor die großen Kämpfe ausgetragen werden. Doch der Platz fehlt mir auf deiner Fläche, um alles exakt aufzuschreiben. Alles wird unleserlich, da dein Körper jetzt gänzlich von meiner Schrift bedeckt ist. Ich bringe dich zu einer Wanne und möchte alles wieder reinwaschen, daß es so ist, als wäre nichts geschehn. Ich stelle dich in die Wanne und lasse das Wasser über dich laufen. Als die Wanne fast voll ist, rutscht du aus und schlägst auf die scharfe Kante am Ende der gekachelten Wand. Aus deinem Kopf läuft das Blut und tränkt das Wasser. Ich wollte kein Opfer, das mußt du doch verstehn. Du schriest: "Es gibt kein Zurück im Leben." Die Schuld klebt noch an uns. 30.9.1997 (c) Marc C. Jäger <-- Schreiben als Bewegung des Denkens --> Märchen |
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