„Nachtgedanken”  

Nachtgedanken

 Hier möchte ich ein paar Gedanken aufschreiben, die mir in letzter Zeit kurz vor dem Einschlafen gekommen sind (weil man ja angeblich in dieser Zeitspanne die besten Einfälle hat). Ich weiß noch nicht, ob und wie ich diese Sätze weiterverwenden will. Es sind nur augenblickliche Eindrücke, keine "Weisheiten", von denen ich selbst noch nicht genau weiß, ob sie es wert waren, festgehalten zu werden. Von Festhalten soll an dieser Stelle ohnehin keine Rede sein. Die Gedanken wollen ja frei und haltlos sein.... (es wird an dieser Stelle auch keine Indiskretionen oder Seelenbeichten geben). Die Provokationen sind von mir erwünscht.



"Warum lieben die Menschen die Freiheit nicht?" - Die Aufklärung war die "Befreiung" des Menschen aus seiner Sklaverei und Unmündigkeit. Aus dieser Befreiung ist dann eine Apparation von Kontrolle und Disziplin geworden, in der sich der Mensch freiwillig einsperren und versklaven läßt. Dieser "Mensch" bleibt auch nach der Verabschiedung Gottes ein Sklaventier, das um seine eigene Unterwerfung bettelt. Ohne Unterwerfung gibt es den "Humanismus" und dieses Subjekt nicht.

 


Wie wunderbar, daß es Anführungszeichen gibt. Man möchte die ganze Welt in Anführungszeichen setzen. Sie weisen darauf hin, daß man nicht wirklich ernsthaft sein kann, also Schein ist. Sie zeigen noch einmal, daß man nicht wirklich ernsthaft sein kann, weil es nichts Ernsthaftes gibt, weil ja alles schon einmal da war, alles Zitat ist, von dem die Redlichkeit fordert, daß man es kennzeichnet. Daher sind sie Zeichen, Anzeiger dafür, daß alles, was wir denken und schreiben, uns bloß anführt, betrügt (beispielsweise um unsere "Originalität"). Wenn aber einmal die ganze Welt in Anführungszeichen steht, dann gibt es auch nichts mehr, was sich ernsthaft diesem Schein gegenüber als Wahrheit präsentieren kann. Vielleicht fallen wir dann in ein hoffnungsvolleres Nichts, das nicht vorgibt, unser Glück zu sein. Wir stürzen und verlachen alles, was sich da Wahrheit nennt.


Ein haltbares, festes Ich ist eine Fiktion. Wir entwerfen und verwerfen unsere Identität in jedem Moment, kaum auffällig. Unhaltbar sind wir,- nur im Selbstmord können wir Gegenwart spüren. "Heute", "jetzt", "in diesem Augenblick" sind Fiktionen eines Ichs, das es nicht gibt. Unsere Identität ist immer zugleich anwesend und abwesend. Diese Problematisierung ist relativ neu. Das moderne Subjekt verschwindet in der Geschichte, es fällt in einen Spalt, den manche das Unsagbare nennen. So z. B. in den Spalt zwischen dem, was wir "selbst" meinen über uns zu denken und dem, was uns andere sagen, wer wir sind. Und wieder stürzen wir in einen Abgrund, in den kein Wort hineinlangt. Nur unsere Körper erzählen stumm von den Geschichten unserer Geschichte, von den Kämpfen an der Grenze des Subjekts.


Manche hermeneutische Interpretation verkennt meiner Meinung nach, daß Gedichte keine Geständnisse von Kranken sind, die selbst kaum etwas von ihrer Rede verstehen. Die Verfasser von Gedichten sind auch keine wundersam sprechende Gehörlose, die unfähig sind, ihre Rede zu vernehmen. Diese Sprache läßt sich nicht in eine akademische Wahrheit übersetzen, die der Sprache des Gedichts nicht mehr zugehört. Interpretation ist nicht das wahrhaftige Heilmittel einer Wunde der Unverständlichkeit, und Rezeption kann mehr sein als die Lust des Psychoanalytikers am Geständnis des Perversen. Immer wieder der gleiche Versuch: Das Stöckchen des Interpreten will dem Krebs-Gedicht lehren geradeaus zu gehen.


An unserem Leiden erkennen wir die ganze Bedeutung des Menschen, den wir lieben. Der starke Wunsch, das geliebte Wesen zu besitzen treibt Menschen in den Tod oder verursacht ein Verlangen danach, das geliebte Wesen zu zerstören, weil es unerträglicher ist, den Geliebten für immer zu verlieren, als ihn zu töten. Damit ist die leidenschaftliche Liebe eng verbunden mit dem Tod. Für diese Raserei verschwendet sich der Liebende, denn der Einsatz, der auf dem Spiel steht, ist die Abgetrenntheit vom anderen zu verlieren und schließlich zu einer Einheit mit ihm zu gelangen. Es ist die verlorengegangene Einheit, die uns an die Kontinuität im Mutterleib erinnert; eine Sehnsucht, die nur im geliebten Menschen erblickt werden kann. Gewünscht wird sowohl die sinnliche, körperliche Vereinigung als auch die Vereinigung der Herzen. Dieser Wunsch ist das Resultat von Übereinstimmungen im Denken und Fühlen, die sich nur schwer bestimmen lassen. Allein im geliebten Wesen kann sich die Welt des Liebenden, die Welt der Vereinigung, welche durch die Begrenzungen der eigenen Abgetrenntheit immerzu verhindert wird, verwirklichen. Antrieb ist die Hoffnung, daß sich für einen Augenblick die Grenze zwischen dem Liebenden und dem anderen durchbrechen läßt. Die unerwiderte Liebe ist die eines ewigen Aufschubs einer kommenden Welt, in der die Trennung aufgehoben erscheint. In der passionierten Liebe verfestigt sich das Leiden, da in ihr die Unmöglichkeit einer Übereinstimmung angestrebt wird, welche sich im von Zufälligkeiten bestimmten Alltag nicht herstellen läßt. Doch TROTZDEM streitet der leidenschaftlich Liebende danach, die abgetrennte Individualität aufzuheben, das geliebte Wesen in seinen Besitz zu bekommen, damit die Einsamkeit zu überwinden und mit ihm EIN Herz zu bilden. Es ist die leidenschaftliche Projektion der vollkommenen Verschmelzung mit dem geliebten Wesen, die den Liebenden dem Tod annähert. (nach der Lektüre von Georges Batailles „Erotik“)


Der Kreis dreht sich weiter... Wenn man sich immerzu im Kreis dreht und man nur noch in Zitaten spricht, großen Phrasen, die das Ungesagte ausdrücken sollen und unverstanden bleiben müssen, weil die Post den Empfänger nicht finden kann; wenn es schon soweit gekommen ist, daß man bereits in den Abgrund des Schweigens gefallen ist und nicht mehr furchtsam vor dem Riß in sich selbst steht. (Ich habe mich ja selbst hinabgestürzt. Aber es wartet und antwortet hier keiner. Ich habe mich furchtbar geirrt.) Dann ist die Angst von einer tieferen Trauer und dem Wissen von einem ewigen, uneinholbaren Verlust begleitet. Die sinnlose Hoffnung, daß jemand ebenfalls hinabsteigt und sich dabei für immer alle Glieder bricht, ist zugleich grausam wie auch unsinnig. Hier unten in der Gefangenschaft gibt es keinen Postverkehr, und die Rufe in die Ferne verhallen ungehört. Hier unten ist ein Rufen so viel Wert wie ein Schweigen. Hier unten ist die Philosophie an ihr Ende gekommen.


Nur mit nichtssagenden Worten läßt sich sagen, was sich nicht denken läßt. Es kommt ein Verdacht auf: „Liegt hinter diesem Abgrund noch ein zweiter?” Der Blick reichte zuvor bis zum Horizont, dem nun hier unten ein weiterer Horizont Platz gemacht hat. Dem endgültigen Schweigen des Gestürzten folgt das todbringende. Oder: Endgültiges Schweigen, todbringendes Schweigen.

 

 


STIMMEN-PHRASEN

„Du kannst mich nicht loswerden. Ich bin in Dir. Ich bin Dein Blut.“
(Die Mutter)

„Diszipliniere Dich. Das ist ja keine Art.“
(Der Vater)

„Das ist Anmaßung: Sie tun Dinge, für die Sie nicht autorisiert sind. Das ist kein wahlloses Spiel, Sie müssen die Regeln beachten und in der Ordnung bleiben.“
(Die Wissenschaft)

„Sie wissen gar nicht, was gut für Sie ist. Ich bin eingeweiht, Sie werden es nicht verstehen. Alles geschieht zu ihrem Besten. Ich bin die Wahrheit, ich bin der Weg, ich werde Sie lehren. Widerspruch zwecklos.“
(Die Autorität)

„Wo soll denn das alles hinführen? Wissen Sie überhaupt, wo Sie damit hin wollen? Was soll man damit anfangen? Haben Sie kein Ziel? Sie werden sich noch wundern... Ich will doch nur Ihr Bestes!“
(Das Amt)

„Du kommst hier nicht rein!“
(Der Pförtner)

„Du kommst hier nicht raus!“
(Der Aufseher)

„Schlimmer als das Blut ist es, einen zum Tode Verurteilten zu berühren.“
(Der Henker)


Schade, daß es keinen Tintenkiller für verlorene Tage gibt. Wie wunderbar wäre es, wenn man das Profane auslöschen und durch große Augenblicke der Hoffnung, der Liebe, der intensiven Erfahrung seiner selbst überschreiben könnte? Es bleiben die Tage, die man nicht gelebt, sondern überlebt hat - ungerettet von der Vergessenheit.

 


Seit einer Weile trage ich einen Titel hinter meinem Namen, den man nur zu offiziellen Anlässen preisgibt: MA. Schade, daß das nicht Martial Arts, sondern lediglich Magister Artium, Meister oder Lehrer der Künste, heißt. Warum bekommt man am Ende seines Studiums keinen schwarzen Gürtel der Geisteswissenschaft verliehen? Statt dessen wird man mit einem unscheinbaren Blatt Papier abgespeist, das überhaupt keine Phantasien nährt oder Erotik verspricht. Als Kung-Fu-Meister wäre man sicherlich auch beliebter, Poster von so einem Kampfkünstler würden Jugendzimmerwände schmücken wie einst Bruce Lees gestählter Körper. Taugt ein Philosoph wie Michel Foucault wirklich als fröhlicher „Judokämpfer“ und „Samurai“, als die er von seinen Weggefährten bezeichnet wurde? Manchmal scheint mir: Wieder eine Chance versäumt... Oder trägt man mit dem angehäuften Wissen vielleicht doch eine kritische Kampfkunst mit sich, von deren Sprengkraft kaum jemand weiß und vor der man eigentlich durch ein äußeres Zeichen die Öffentlichkeit warnen müßte?


Brücken sind Verbindungen, Stützen, manchmal Kreuzungspunkte; ausgestreckte Hände, die uns über eine Kluft hinüberziehen oder in den Abgrund drücken. Und man kann sich selbst wunderbar an ihnen hinunterstürzen. Brücken sind dann Abgründe. Anfang und Ende jeder Kommunikation.

 

 


Manchmal scheint mir, Leben wäre nichts weiter als eine Suche nach ewiger Ruhe, ein wiederkehrender Versuch, nicht mehr von seinem Begehren beherrscht zu werden.

 

 


In den Mahlstrom Ich bin da, aber abwesend. Von fiktivem Ursprung bin ich, eine tausendmal überarbeitete, variierte und neu erzählte Erinnerung. Ebenso erscheint mir jeder Augenblick der Präsenz als eine Fiktion, die ich für wertlos und nichtig erachte. In Verteidigung des Nichts stelle ich das absolute Nichts her: ein leeres Blatt, bar jeder Geschichte. Diese Vernichtung gelingt mir mit gesteigertem Desinteresse; ich bin verantwortungslos und kann für nichts mehr garantieren. In diesem Zustand, dem unbeschreiblichen, beschreibe ich das Blatt mit dem Leben, das ich für ungenügend halte.
Die Schrift fließt auf das Papier wie ein warmer Wasserschwall, ein Strudel, der einen abwärts zieht. Schreiben beginnt, nachdem man mit der Angst vor dem Nichts konfrontiert war und diese Angst vor dem Ertrinken – in einem Moment – durchschritten hat; es beginnt, wenn es kein Morgen mehr gibt, das Gestern vergessen und die Gegenwart gleichgültig ist und sich diese Erfahrung des Nichts in erhöhte Aufmerksamkeit verkehrt. Wer schreibt, hat Hoffnung, welche die Angst beschwört und verwandelt. Unmöglich ist es, das Nichts willkürlich herbeizuführen. Es bricht über einen herein wie eine verschlingende Meereswoge. Man wird ein aufmerksam Abwesender. Schreiben ist Zeichen für eine Tötung des Selbst, die schon stattgefunden hat, aber auch eine Aufzeichnung des Noch-nicht-tot-Seins.


In meinem Lebenslauf kann ich leider keine nennenswerten Auslandsaufenthalte angeben, die mich auszeichnen könnten. Es genügt nicht, sein „inneres Ausland“ zu erkunden. (Ich komme aus Gießen. Reicht das auch nicht? Oft genug fühlt man sich dort wie in einem fremden Land, jedenfalls ganz weit weg von „der Welt“.) Selbst meine Wohnung, meine Kleidung, mein Körper erscheinen mir hin und wieder als furchtbar unangemessen und fremd. Überall ist Ausland.
Jetzt finden Sie mal jemanden, mit dem Sie eine gemeinsame Sprache sprechen! Meine Rede kommt kaum noch zu einer einfachen Mitteilung, kann keine klaren Aussagen machen, sondern ist lediglich darum bemüht, die Vorurteile und Mißverständnisse über mich aus dem Weg zu räumen. Da fällt mir ein: Ich selbst unterliege schließlich diesen Mißverständnissen über mich und die anderen; eigentlich wäre es das beste, mich selbst aus dem Weg zu räumen. Nein, nicht mich selbst, sondern jede bezeichnende Rede über Menschen. Wieder kommt der Wunsch nach dem weißen Blatt auf, nach Musils utopischen anderen Anfang, - aber es ist zu spät für eine gemeinsame Sprache. Jeder lebt in seinem eigenen gebastelten, konstruierten oder vorgefertigten Diskurs, in seinem eigenen Ausland, das er mit sich trägt und mit dem er auf Reisen geht. Da erzähle ich nichts Neues,- trotzdem liegt dort der Schmerz, aus dem man nicht klug wird, weil man immer wieder an die eigenen sprachlichen Grenzen stoßen muß.


Nicht berühren! Wenn sich ein Mensch verfolgt vorkommt, dann geschieht das oftmals aufgrund eines „schlechten Gewissens“ gegenüber dem, was ihn verfolgt. Wieviele unserer Handlungen werden durch ein „schlechtes Gewissen“ motiviert? Das „schlechte Gewissen“ ist gleichzeitig Schranke und koextensiver Ausgangspunkt einer Moral mit eigenen Regeln, zwischen Angst und den eigenen normativen Ansprüchen. Der „Sündenfall“, den man einmal gegen sich selbst oder einem anderen begangen hat, als Verfolgungswahn lässt er einen kaum noch los. Sogar die irrationalsten Handlungen lassen sich noch dadurch motivieren - und verschleiern damit die Herkunft ihres eigentlichen Antriebs. Das Schuldigsein ist die allererste Erfahrung des selbstbewussten Menschen, und das vielleicht nicht erst als Folge der Christenmoral. Schuldigsein, Sich-schuldig-Fühlen, bevor jemand den Schuldspruch ausgesprochen hat (außer vielleicht unbewusst man selbst), das ist eine Erfahrung, die man selten nur ausschließlich aus Werken Kafkas kennt.


SELBSTSCHUTZANLAGEN

Achtung! Selbstschutzanlage!Wie gelingt es manchen Menschen so zu tun, als ob sie in ihrem Subjekt-Status nicht angreifbar wären? Was befähigt sie dazu, den Subjekt-Status des anderen zu riskieren oder sogar zerstören zu können und dabei selbst gänzlich unbeschadet zu bleiben? Wäre es eine Einbildung zu behaupten, dass dieser Angriff auf die Identität und die Geschichte des Anderen tatsächlich eine Angst vor der eigenen Aggression und zugleich eine Abwehrhaltung gegenüber der (Selbst-)Auslöschung darstellt? Die Selbstauslöschung ist in diesem Fall der Zustand vor der Trennung, der Zustand ohne den Kampf um die individuelle Selbstbehauptung. Darüber hinaus kann eine solcher Zerstörungsversuch des Subjekt-Status des Anderen als ein Machtspiel der Rache erscheinen, welches sich als „Selbstschutz“ verkleidet. Bei diesem Gerichtsdrama, das in Wirklichkeit ein Kriegsspiel ist, werden die Rollen des „Helden“/„Staatsanwalts“ und des „Schuldigen“ durch denjenigen von vornherein besetzt, der seine Macht behaupten möchte. Hingegen ist dieser "Selbstschutz" vielleicht nichts anderes als ein Verdrängen der eigenen Sterblichkeit und Vergänglichkeit, die sich zerstörend in die Geschichte des Anderen einschreiben soll oder diese Geschichte selbst unmöglich machen möchte. In der gegenwärtigen abendländischen Ethik fehlt nur eine winzige Drehung, um in der symbolischen Ordnung aus dem X (Ex), dem Anderen, dem Objekt der Auslöschung, dem (Verbots-) Schild, dem Grenzgebiet, ein Grabkreuz zu machen. Nur die Tötung des Anderen vermag in dieser archaisch anmutenden Ethik die eigene Selbstachtung wiederherzustellen. Die Unterwerfung des Anderen unter den eigenen Diskurs, die Umschreibung und Auslöschung der Geschichte des Anderen dient der eigenen Selbstanerkennung. In diesem Spiel der individuellen „Selbstschutzanlagen“ gilt allein der folgende einfache Satz: „Ich kann nur (weiter-)leben, wenn meine Macht durch den Tod des Anderen und seiner Geschichte wiederhergestellt ist.“ Hier entsteht schließlich ein selbstbewußtes Leben, welches sich auf der absoluten Tötung und Opferung des Anderen gründet.

 


„Wussten Sie schon, dass Frisöre in Wirklichkeit umgelernte Halsabschneider sind? Ja, wussten Sie das denn nicht? Denn als Frisör möchte man den Menschen manchmal einfach nicht die Haare vom Kopf, sondern den Kopf vom Haar abschneiden. Meist sind die Haare auch viel schöner als das, was in den Köpfen vorgehen mag.“






wird fortgesetzt...

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