POSTSTRUKTURALISMUS FÜR
EINSTEIGER
STRUKTURALISTISCHE
LINGUISTIK:
Die
Sprache ist keine Substanz (Metaphysik der Substanz),
sondern eine Form und ein System von Zeichen und Konventionen
der Kommunikation.
Man
unterscheidet in der Linguistik unter:
SPRACHE
(langue) |
<
Unterscheidung von > |
SPRECHEN
(parole) |
SPRACHE
(langue)
System von Zeichen und
Konventionen der Kommunikation |
<
Unterscheidung von > |
MENSCHLICHE REDE
(langage)
entzieht sich durch Vielfalt und
Heterogenität einem
analytischen Zugriff |
Die
Sprache ist ein Zeichensystem mit bestimmten Regeln, Sprechen
ist eine regelgeleitete Operation. Ein sprachliches Zeichen bei Ferdinand de Saussure besteht aus Lautbild und Begriff
(oder Vorstellungsbild). Zwischen dem Signifikant und dem Signifikat
(s. Schema unten) besteht eine arbiträre (d. h. willkürliche Beziehung).
In der Sprache gibt es nur Differenzen, die Bedeutungen erzeugen
(z. B. verstehe ich die Bedeutung von /bier/ (= Getränk), weil
es nicht /tier/ oder /vier/ heißt). Die formale Organisation des
sprachlichen Zeichensystems ist die Bedingung aller inhaltlichen Bestimmungen
und Bedeutungen.
Das Zeichen besteht aus:
LAUTBILD
image acoustique
Signifikant
signifiant
Zeichenausdruck
Zeichenform
BEDEUTENDES
(das Geräusch, wenn ich
sage Bier (d. i. /bier/),
die Buchstaben b, i, e, r) |
<
arbiträre Beziehung > |
VORSTELLUNG
concept
Signifikat
signifié
Zeicheninhalt
Bedeutung
BEDEUTETES
(das Glas, die Bierflasche usw.,
die ich mir vorstelle, wenn ich /bier/ sage.
Jeder Mensch hat natürlich eine
eigene Vorstellung von einem B-I-E-R,
deswegen kommt es auch oft zu
Mißverständnissen) |
Poststrukturalismus:
Die
Bedeutung eines Zeichens ist bei der Trennung von Signifikat und Signifikant
nicht unmittelbar präsent (Metaphysik der Präsenz).
Da die Zeichenbedeutung davon abhängt, was das Zeichen nicht
ist, ist seine Bedeutung immer auch in bestimmtem Sinne abwesend.
Bedeutung ist also die ganze Signifikantenkette entlang verstreut. Die
Sprache ist ein Vorgang in der Zeit. Deshalb kann ich nicht alle Worte
gleichzeitig aussprechen und nicht alles auf einmal lesen. Wenn ich
einen Satz lese, ist seine Bedeutung also immer irgendwie unentschieden.
Selbst wenn der Satz zu Ende ist, ist die Sprache es noch lange nicht.
Ich kann den Sinn eines Satzes nicht erfassen, indem ich einfach mechanisch
ein Wort an das andere reihe; damit die Wörter überhaupt einen relativ
kohärenten Sinn ergeben können, muß jedes von ihnen sozusagen
die Spuren der vorangegangenen in sich tragen und sich für die Spuren
der folgenden offenhalten. Jedes Zeichen ist in dem sprachlichen Netz
von einem anderen abhängig. Die Bedeutung konstituiert sich durch das,
was sie nicht ist, d. h. sie ist nicht mit sich selbst identisch
(wenn man in einem bestimmten Moment das Wort /bier/ liest, dann hat
es für dieselbe Person schon ein paar Sekunden später eine ganz andere
Bedeutung. Oder wenn ich an /bank/ denke, dann kann es die Sparkasse
oder eine Parkbank sein; aber selbst wenn /bank/ eine feste fixierte
Bedeutung hätte (z. B. Geldinstitut), könnte ich auch immer
wieder an eine andere Bank denken (z. B. an die Deutsche Bank, meine
Hausbank, eine Sparkasse bei Tageslicht vorgestellt, die Sparkasse in
der Dämmerung usw.). Ein Zeichen ist immer wiederholbar (z. B. der Laut,
das Phonem /b/ in Bier), aber die Identität des Zeichens ist aufgesplittert,
da es immer wieder in einem neuen Kontext reproduziert werden kann,
der seine Bedeutung verändert. Der Strukturalismus behauptet,
daß die Signifikate und die Signifikanten eine klar abgegrenzte
Struktur haben und einander symmetrisch (binär) zugeordnet sind.
Bei den Poststrukturalisten ist die Sprache ein grenzenloses,
sich ausdehnendes Netz, in dem ein ständiger Austausch und ein Zirkulieren
zwischen den Elementen herrscht. Kein einzelnes Element ist jedoch vollständig
definierbar (es existiert also kein Ursprung). Es gibt keine
Wirklichkeit außerhalb der Sprache.
Daraus ergeben sich folgende traurige
Konsequenzen:
- nichts ist jemals vollständig im Zeichen
gegenwärtig;
- es wäre eine Illusion zu glauben, daß
ich in dem, was ich sage oder schreibe, jemals einem anderen völlig präsent
sein könnte;
- auch ich selbst, da Sprache etwas ist,
woraus ich bestehe, bin keine stabile, einheitliche Entität;
- ich kann mir selbst nicht gegenwärtig
werden; ich kann die Erfahrung einer vollkommenen Kommunikation
nicht einmal mit mir selbst machen;
- da die Sprache die Luft ist, die
ich atme, kann ich eine reine, unbefleckte Bedeutung
oder Erfahrung gar nicht erst haben.
Damit verabschiedet sich der Poststrukturalismus
vom cartesianischen Denken (nach René Descartes:
cogito ergo sum, Ich denke, also bin ich) und spricht
vom Tod des Subjekts oder vom Tod des Menschen. Jeder Mensch
ist ein sprachliches Konstrukt (Barthes, Derrida)
oder ein Konstrukt diskursiver und nicht-diskursiver Machtpraktiken (Foucault).
Weil jeder Mensch auf die Sprache, das Wörterbuch, zurückgreifen muß und (literarischen
usw.) Texten nichts Ursprüngliches anhaftet, spricht man auch vom Tod des
Autors. Nietzsche folgend behaupten z. B. Butler
und Foucault, daß es keinen Täter hinter der
Tat gibt. Niemand ist für sein Handeln vollkommen verantwortlich. Die Subjekte
sind nur Effekte einer diskursiven Macht.
Eine Definition der Feinde des Poststrukturalismus
PHONOZENTRISMUS: Wenn ich schreibe, fällt
mir oft auf, daß ich die Schnelligkeit meiner Gedanken nicht einholen
kann. Wenn ich spreche, unterliege ich allerdings oft der Illusion, daß das
Ausgesprochene und meine Gedanken eins sind. Meine lebendige Stimme
ist allerdings reine Fiktion, da die gesprochene Sprache genauso materiell
ist wie das gedruckte Wort. Schreiben ist keine Sprechen aus zweiter Hand.
Wenn jemand die lebendige Stimme, die Wahrhaftigkeit der gesprochenen Rede
lobt, die viel authentischer ist als die Schrift, dann ist sein oder ihr Denken
phonozentrisch.
LOGOZENTRISMUS: Wenn jemand an ein endgültiges
Wort, eine endgültige Präsenz, ein Wesen, eine Wahrheit
oder eine Wirklichkeit, welche die Grundlage unseres ganzen Denkens, unserer
Sprache und unserer Erfahrung ist, glaubt, dann verlachen Poststrukturalisten
sie oder ihn gerne als Logozentrisch-Denkende oder -Denkenden.
TELEOLOGISCHES DENKEN: Es gibt keine Vorstellung,
die nicht in das unbegrenzte Spiel der Bedeutung verstrickt wäre. Manche Bedeutungen
werden aber durch gesellschaftliche Ideologien in eine privilegierte Position
gebracht. Arbeit, Leben, Familie, Geschlechtsidentität, Demokratie, Autorität
usw. gelten als Grundlagen, werden als feste Werte angesehen. Diese Bedeutungen
gelten dann als der Ursprung aller anderen. Die Teleologie ist eine
Denkweise, die das Leben, die Sprache und die Geschichte als auf ein telos,
d. h. ein Ziel, ausgerichtet sieht. Das teleologische Denken nimmt an, daß
alles, was geschieht, nur auf einen Endzweck ausgerichtet ist, um eine Hierarchie
von Bedeutungen zu konstruieren. Der Poststrukturalismus bezeichnet solches
Denken als der Metaphysik der Geschichte verhaftet und feiert den Tod
der Geschichte.
METAPHYSISCHES DENKEN: Wenn man von einem
unanfechtbaren Fundament ausgeht, von einem Grundprinzip, das auf einer unangreifbaren
Basis, auf einer ganzen Hierarchie von Bedeutungen errichtet werden kann,
dann bezeichnet der Poststrukturalist oder die Dekonstruktivistin dieses Denken
als metaphysisch. Wir können dem metaphysischen Denken aber nicht entwischen,
weil es durch eine lange Geschichte längst in uns verankert ist.
BINÄRE OPPOSITIONEN: siehe Dekonstruktion.
DEKONSTRUKTIVISMUS
Begriffe des Dekonstruktivismus
DEKONSTRUKTION: Die Dekonstruktion untersucht
die Grundprinzipien des metaphysischen Denkens und zeigt, daß
diese das Ergebnis eines bestimmten Bedeutungssystems sind und nicht etwas,
was dieses System von außen aufrechterhält. Grundprinzipien werden gewöhnlich
dadurch definiert, was sie ausschließen (z. B. eine Frau ist eine Frau,
weil sie kein Mann ist; es ist hell draußen, weil es nicht dunkel ist).
Die Dekonstruktion ist die Denkweise, in der solche binären Oppositionen
unterlaufen werden können oder durch die gezeigt werden kann, wie sie sich
im Vorgang der Textbedeutung (hier gilt ein erweiterter Textbegriff: Die Welt
ist ein Text, ich bin Text) selbst unterlaufen. Ideologien ziehen gerne strikte
Grenzen (z. B. Vernunft/ Wahnsinn, normal/ anomal; Sinn/ Unsinn, wahr/ falsch).
Durch die Dekonstruktion wird sichtbar, wie ein Begriff der Antithese heimlich
oder maskiert der anderen innewohnt.
APORIE:
Die Taktik der Dekonstruktion besteht darin, aufzuzeigen, wie Texte
dahin kommen, die sie beherrschenden logischen Systeme in Verlegenheit
zu bringen. Die Dekonstruktion zeigt dies, indem sie an den Aporien
oder Sackgassen der Bedeutung festhält, an denen die Texte in
Unannehmlichkeiten kommen, auseinanderfallen, zu sich selbst in
Widerspruch geraten.
Weitere Begriffe, die an dieser Stelle
nicht kurz erklärt werden können:
-
Begriffe, die vor allem für das Denken Jacques
Derridas gelten: différance, dissémination,
Phallogozentrismus; grammatologie, écriture;
-
bei Michel Foucaults Philosophie sind
folgende Begriffe besonders wichtig: Archäologie, Genealogie,
Diskurs, Dispositiv, Macht-Wissen-Komplex, Biomacht, Gouvernementalität;
-
Jean Baudrillard: Simulakrum (simulacre);
-
Roland Barthes: Semiologie, Simulakrum,
Mythologie, Echokammer, frei flottierende
Signifikanten;
-
Julia Kristeva: Intertextualität,
Transposition;
-
Jacques Lacan und Luce
Irigaray: Phallozentrismus und Spiegelstadium;
-
Judith Butler: queer studies,
Performativität, Intelligibilität und Materialisierung.
(fast
alle Begriffe sind nachschlagbar im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie,
Hg. v. Ansgar Nünning; außerdem zu empfehlen: Linke/ Nussbaumer/
Portmann: Studienbuch Linguistik; Hadumod Bußmann: Lexikon der Sprachwissenschaft;
Terry Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie. Alle Bücher
sind leicht erhältlich. [Anm.: Der Artikel ist von 2001, M. C. J.)
Gibt
es Unterschiede zwischen Dekonstruktion (oder Dekonstruktivismus), Poststrukturalismus,
französischem Feminismus und Postmoderne?
Der
Begriff Postmoderne werden eine Vielzahl
von Positionen zugeschrieben, so als könne sie den Träger für eine ganze
Reihe von Positionen abgeben, wie zum Beispiel: alles ist Diskurs,
als wäre der Diskurs eine Art monistischer Materie, aus der sich alle
Dinge zusammensetzen; oder: das Subjekt ist tot, ich kann
also niemals wieder Ich sagen; oder: es gibt keine Realität,
sondern nur Repräsentationen. Diese Bestimmungen werden wahlweise
der Postmoderne oder dem Poststrukturalismus
zugeschrieben, die sowohl untereinander als auch mit der Dekonstruktion
verwechselt werden und bisweilen als ununterscheidbare Mischung aus französischem
Feminismus, Lacanscher Psychoanalyse, Foucaultscher Analyse,
Rortys Konversationalismus und Kulturwissenschaften erscheinen. Im neueren
Diskurs auf dieser Seite des Atlantiks beseitigen die Termini Postmoderne
und Poststrukturalismus
auf einen Schlag die Differenzen zwischen diesen Positionen und stellen
damit ein Substantiv oder ein Dingwort bereit, das all diese Positionen
als seine Modalitäten oder Permutationen einschließt. So werden
einige Betrachter der europäischen Szene überrascht sein zu erfahren,
daß sich die Lacansche Psychoanalyse in Frankreich selbst offiziell
als Gegnerin des Poststrukturalismus
versteht, daß Kristeva die Positionen der Postmoderne
denunziert [(vgl. Julia Kristeva, Schwarze Sonne)], daß die
Anhänger Foucaults sich selten mit denen Derridas verbinden, daß
Cixous und Irigaray grundsätzlich gegensätzliche Anschauungen
vertreten und daß die einzige, zudem schwache Verbindung zwischen
dem französischen Feminismus
und der Dekonstruktion die Verbindung
zwischen Cixous und Derrida ist, obgleich man auch eine gewisse Verwandtschaft
in der textuellen Praxis von Derrida und Irigaray aufweisen kann. Darüber
hinaus hat Biddy Martin recht, wenn sie darauf hinweist, daß fast alle
französischen Feministinnen einen ausgeprägten Begriff der Moderne
und der Avantgarde vertreten, womit sich die Frage stellt, ob diese Theorien
oder Schriften einfach unter die Kategorie Postmoderne
einzureihen sind.
(Aus:
Butler, Judith: Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage
der Postmoderne. In: Seyla Benhabib, Judith Butler,
Drucilla Cornell, Nancy Fraser: Der Streit um Differenz. Feminismus und
Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Fischer, 1993. S. 32f.
Alle Hervorhebungen von mir, M. C. J.)
Weitere
Informationen gibt es auf dieser Seite unter Poststrukturalismus.
Texte zur Einführung.
Marc-Christian
Jäger, Dezember 2001
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