Das
Feindbild des Poststrukturalismus:
"Postmoderne
Philosophen wollen all die Überzeugungen radikal in Zweifel ziehen,
die sich aus der Aufklärung ableiten und immer noch in unserer
Kultur [...] vorherrschend sind. [Der Poststrukturalismus lehnt folgendes
Denken vollkommen ab:]
1. Die Existenz eines abgegrenzten, einheitlichen Subjekts.
Zu den angebbaren Eigenschaften dieses Subjekts
der Aufklärung gehört u. a. eine Vernunft, die in der Lage
ist, ihre eigenen Prozesse wie die "Naturgesetze"
zu begreifen.
2.
Die Vernunft und ihre "Wissenschaft", die Philosophie, können eine
objektive, zuverlässige und universelle
Begründung des Wissens liefern.
3.
Das Wissen, das durch den richtigen Gebrauch der Vernunft gewonnen wird,
ist "wahr" - so gibt dieses
Wissen z. B. Reales und Unveränderliches (Universales) über
unser Denken und über die Struktur der natürlichen Welt wider.
4.
Die Vernunft selbst hat transzendentale und universale Qualitäten.
Sie existiert unabhängig von der kontingenten Existenz des Ich.
- Körperliche, historische und soziale Erfahrungen beeinträchtigen
weder die
Struktur der Vernunft noch ihre Fähigkeit, überzeitliches
Wissen zu produzieren.
5.
Zwischen Vernunft, Autonomie und Freiheit gibt es komplexe Beziehungen.
Alle Ansprüche auf Wahrheit
und legitime Autorität müssen dem Urteil der Vernunft unterworfen
werden. Freiheit besteht im Gehorsam gegenüber
Gesetzen, die mit den notwendigen Resultaten des richtigen Gebrauchs
der Vernunft übereinstimmen. (Die Regeln, die für mich als
vernünftiges Wesen richtig sind, sind für alle anderen vernünftigen
notwendigerweise
auch richtig.) Indem ich solchen Gesetzen gehorche, folge ich dem besten
überzeitlichen
Teil meiner selbst (der Vernunft); ich erweise mich als autonom und
bestätige meine Existenz als freies
Wesen. Durch solche Handlungen entkomme ich einer determinierten oder
nur zufälligen Existenz.
6.
Wenn Autoritätsansprüche durch die Vernunft legitimiert werden,
kann der Konflikt zwischen Wahrheit,
Wissen und Macht überwunden werden. Die Wahrheit kann der Macht
dienen, ohne Schaden zu nehmen,
und umgekehrt sind Freiheit und Fortschritt gesichert, wenn Wissen im
Dienst der Macht genutzt wird.
Wissen kann beides sein: neutral (= universell und nicht in Partialinteressen
gegründet) und für die Gesellschaft von Vorteil.
7.
Die Wissenschaft, das Paradebeispiel für den richtigen Gebrauch
der Vernunft, ist zugleich das Paradigma
für jedes wahre Wissen. Die Wissenschaft ist in ihren Methoden
und Inhalten neutral, in ihren Ergebnissen
aber dient sie dem Allgemeinwohl. Denn durch wissenschaftliche Forschung
können wir die "Naturgesetze"
zum Wohle der Gesellschaft nutzen. Um den wissenschaftlichen Fortschritt
zu sichern, müssen Wissenschaftler allerdings frei sein, den Regeln
der Vernunft zu folgen, statt sich für "Interessen" einspannen
zu
lassen, die außerhalb des Diskurses der Vernunft entstehen.
8.
In gewisser Hinsicht ist die Sprache transparent. So wie der richtige
Gebrauch der Vernunft zu Wissen
führt, das Wirkliches repräsentiert, so ist die Sprache nichts
als das Medium, in dem und durch das die Repräsentation erscheint.
Es gibt eine Entsprechung zwischen "Wort" und "Ding" (wie zwischen einer
wahren
Aussage und dem Wirklichen). Gegenstände werden nicht
sprachlich (oder sozial) konstruiert, sie werden dem
Bewußtsein durch Benennung und richtigen Gebrauch der Sprache
nur präsent gemacht. [...]"
Aus:
Flax,
Jane: Postmoderne und Geschlechter-Beziehungen in der feministischen
Theorie. In: Der Mensch als soziales Wesen. Sozialpsychologisches Denken im 20. Jahrhundert.
Hg. v. Heiner Keupp. 2. A. München: Piper, 1998. S. 262-271. [deut., gekürzt]
Vollständiges
Original:
Flax, Jane: Thinking Fragments. Postmodernism and Gender-Relations
in Feminist Theory. In: Feminisim/ Postmodernism. Hg. v. Linda J. Nicholson. New York and London: Routledge, 1990. S. 39-62. [amerik.]
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Poststrukturalismus:
"[U]nter
dem Begriff Poststrukturalismus, der oft fälschlicherweise als
Synonym zum Begriff Postmoderne gehandelt wird, werden eine Anzahl von
Philosophen (Gilles Deleuze, Jacques Derrida,
Michel Foucault, Luce Irigaray, J. F. Lyotard),
Literaturkritikern (Roland Barthes), Soziologen (Jean
Baudrillard) und Psychoanalytikern (Pierre Félix
Guattari, Julia Kristeva,
Jacques Lacan) gebündelt. Entwickelt wurde der Poststrukturalismus
zum größten Teil in Frankreich; insbesondere in einem kleinen
Zirkel von sich gegenseitig befruchtenden Denkern im Paris der späten
60er - 80er Jahre (man spricht daher oft vom Poststrukturalismus als
"französischer Schule"), wobei der Höhepunkt der internationalen
Rezeption des Poststrukturalismus in den 80er Jahren liegt.
Gilles Deleuze (Bild)
Wie
sein Name besagt, entwickelt sich der Poststrukturalismus aus einer
komplexen Revision und Neudefinition des wiederum insbesondere französischen
Strukturalismus (Claude Lévi-Strauss, Ferdinand de Saussure,
Roman Jakobson, Louis Althusser). Bedeutend beim Poststrukturalismus,
der den Strukturalismus modifizierend kritisch weiterentwickelt, ist
der Rekurs auf die linguistische Wende (linguistic turn), d.
h. auf die Beeinflussung verschiedener Wissenschaften durch Linguistik
und Semiotik. Diese gemeinsame Basis erlaubt eine starke Interdisziplinarität,
da alle Spielarten des Poststrukturalismus, ob nun Philosophie, Soziologie,
oder Psychoanalyse, ihre spezifischen Theorien aus einer rigorosen Semiotisierung
der Welt und der Wissenschaft heraus entwickeln. So ist den, sich teilweise
kritisch voneinander abhebenden, Versionen des Poststrukturalismus gemeinsam
der Rückgriff auf die, insbesondere Saussuresche, Zeichentheorie,
in der sich das Zeichen aus der Triade Signifikat (Vorstellung, Bezeichnetes),
Signifikant (Lautbild, Bezeichnendes) und Referent (Ding, Objekt) zusammensetzt,
wobei der Referent als "ausgeschlossenes Element" fungiert, welches
der Zeichenproduktion zwar unterliegt (als Vakuum, das es zu füllen
gilt), sie aber nicht direkt beeinflußt (vgl. dazu besonders Umberto
Eco).
In
den verschiedenen Versionen des Poststrukturalismus wird durchgehend
die Idee, der zufolge das Signifikat höher zu bewerten ist als
der lediglich "supplementäre" Signifikant, einer rigorosen Kritik
unterzogen. Bei Derrida geschieht dies mittels einer
Dekonstruktion (ein Begriff der, obwohl genaugenommen nur auf die Derridasche
Form des Poststrukturalismus anwendbar, weithin synonym mit der Verfahrensweise
des Poststrukturalismus verwendet wird) "logozentrischer" [...], d.
h. in der Metaphysik verhafteter, Texte. Die dekonstruktivistische Analyse
legt in den untersuchten Texten die "Verdrängung" des Sprachmaterials
zugunsten der Illusion unkontaminierter Bedeutung offen. In rhetorisch
und konzeptuell höchst komplexen Texten führt Derrida
die untersuchten Texte bis an die Grenze, an der sich die Ideen vom
Ursprung, reiner Bedeutung sowie von gedanklicher und textueller Geschlossenheit
auflösen. In einem im Laufe seiner Entwicklung immer verspielter
und freier werdenden Duktus, der sich bewußt den Gesetzen eines
philosophisch-wissenschaftlichen Textes entzieht, werden Derridas
Schriften zu Abbildern eines Denkens, das sich dezidiert innerhalb der
Spaltung von Signifikat und Signifikant ausbreitet. Die durch die "Durchstreichung"
der Ontologie und der Metaphysik erreichte Freiheit wird dem Poststrukturalismus
oft als Verspieltheit angelastet [(vgl. Richard Rorty)]. Bei
Lacan, der stärker im Strukturalismus verhaftet ist
als Derrida, zeigt sich eine ähnliche Aufwertung
des Sprachmaterials, die Lacan aus der Freudschen Theorie
[...] heraus arbeitet. Zurückgreifend auf die Theorien Jakobsons
bildet Lacan die linguistischen Begriffe Metapher und
Metonymie auf die psychoanalytischen Begriffe Verdichtung und Verschiebung
ab. Aus dieser Analogie entwickelt er den Begriff eine Unbewußten,
das "strukturiert ist wie eine Sprache". In der Kritik von Deleuze
und Guattari wird die Lacansche Theorie
gegen sich selbst gelesen, wobei besonders das Gefangensein der Theorie
in dem sozialen Projekt der Ödipalisierung hervorgehoben wird.
War das Ergebnis der psychoanalytischen Kur ein Subjekt, das sich mit
seiner Gespaltenheit abgefunden hat, so propagieren Deleuze
und Guattari ein Subjekt, das sich in Felder und Ströme
von Intensitäten auflöst.
Auch Baudrillard macht sich in seiner Kritik des klassischen
Marxismus die Linguistik zunutze. Laut Baudrillard sind
alle ökonomischen Gesetze dem Gesetz der Sprache und Struktur des
arbiträren Codes, d. h. der Sprache, unterworfen und spiegeln dieses
wider. Baudrillards Theorie zufolge ist in der postkapitalistischen
Welt die Realität ausgelöscht und in eine hyperreale Simulation
überführt worden (Simulakrum). Diese ist künstlich geschaffen
und vollständig den Werten des Kapitalismus unterworfen.
Wichtig
für das Projekt des Poststrukturalismus, sowie für seine Rezeption,
ist im besonderen Maße seine sowohl implizite als auch explizite
Neudefinition des Subjektbegriffs, der sich nicht mehr in einen humanistischen
Rahmen zwängen läßt, obwohl die Aversion zwischen Poststrukturalismus
und Humanismus oft auf Mißverständnissen beruht. Das poststrukturalistische
Subjekt ist ohne Ursprung und ohne Einheit. Es ist "im tiefsten Inneren"
ein Zeichenprodukt; ein in der Sprache gefangenes und durch Sprache,
im weiteren Sinne durch Kultur definiertes Wesen.
Insbesondere
der Feminismus hat sich diese Sichtweise zunutze gemacht, um die Stellung
der Frau (als dem Signifikat eines phallozentrischen Systems und einer
phallokratischen Sprache) frei- und umzuschreiben [...]. Solche Neudefinitionen
sind möglich, da der Poststrukturalismus die Realität als
künstlich erzeugtes Produkt versteht und somit als inhärent
fiktiv. Ein der Logik der Sprache unterworfenes Subjekt ist unweigerlich
ein eminent literarisches.
Dies
ist wohl der Grund dafür, daß der Poststrukturalismus insbesondere
die Literaturtheorie beeinflußt hat, die in diesem Subjekt das
literarische Subjekt wiederfand. Im Gegensatz zum Strukturalismus, dem
es darum ging, aus verschiedenen Oberflächenstrukturen eine Tiefenstruktur
zu abstrahieren und somit aus verschiedenen Texten eine allgemeine Bedeutung
zu destillieren (im Bereich der Literaturtheorie und der Anthropologie
denke man z. B. an Lévi-Strauss´ Mythentheorie und -kritik),
geht es den Poststrukturalismus gerade darum zu zeigen, daß eine
solche Trennung nicht aufrechtzuerhalten ist (ein Schlüsselwerk
in diesem Übergang ist [Michel] Foucaults Buch "Le
mots et les choses", 1966, [deut.] "Die Ordnung der Dinge").
Generell
propagiert der Poststrukturalismus die Gleich stellung der Ebenen des
Signifikanten und des Signifikats bei gleichzeitiger Auslassung des
Referenten als einem erst nachträglich erstellten, immer schon
versprachlichten Begriff. In der Literaturtheorie, z. B. in [Roland]
Barthes´ "S/Z" (1970), führt dies dazu, daß verschiedene
Lese- und Interpretationsebenen parallel zueinander oder, wie Deleuze
und Guattari sagen würden, "transversal" einen Text
durchkreuzen, ohne ihn auf eine spezifische Bedeutung zu reduzieren.-
Dieser
Rekurs auf anscheinend frei flottierende, oder in Derridas
Vokabular "disseminierende" (vgl. Dissémination), Leseversionen,
in deren Licht selbst die aufgefächertsten Interpretationen der
hermeneutischen Schule noch zu zentriert erscheinen, haben den Poststrukturalismus
sowohl im engeren literatur-theoretischen Kritik einer "anything goes-Attitüde"
ausgesetzt als auch im weiteren Sinne dem Vorwurf, elitär und unpolitisch
zu sein.
Besonders
in letzter Zeit gibt es Versuche des Poststrukturalismus, sich eben
diesen Kritiken zu stellen. So werden insbesondere in den Kulturwissenschaften
Versuche unternommen, Spannungen zwischen verschiedenen Zeichensystemen
zu behandeln."
Berressem, Hanjo: Poststrukturalismus. In: Metzler Lexikon
Literatur- und Kulturtheorie. Hg. v. Ansgar Nünning. Stuttgart
u. Weimar: Metzler, 1998. S. 439-440.
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Poststrukturalismus
und Macht
"[...] Mit der Entzauberung des Staates durch die weiterentwickelte
Systemtheorie der 70er und 80er Jahre lösten sich die Machtanalysen
in Netzwerkanalysen auf. Der französische Poststrukturalismus hat
theoretisch eine weitere Verflüssigung der Macht vorgenommen. In
der französischen Tradition war die Macht vor allem negativ gesehen
worden. Es ging darum, sie rechtlich zu begrenzen. Foucault
(in: "Dispositive der Macht") ging einen Schritt weiter und versuchte,
auch die technisch-positive Seite der Macht zu entlarven. Die Machtkritik
der französischen Linken war auf das politische System als ganzes
gerichtet. Für Foucault (vgl. ebd.) mußte eine
zeitgemäße Machtkritik über die marxistische und antiautoritäre
Machtkritik hinausgehen. Der Staat wurde nicht als Verkörperung
der Macht angesehen. Der Staat konnte für Foucault
nur auf der Grundlage vorher bestehender Machtverhältnisse funktionieren.
Er war noch immer eine Art Überbau, aber nicht über der Ökonomie,
sondern Überbau über eine ganze Reihe von Machtnetzen, die
ihrerseits von einer Art Übermacht konditioniert wurden, die um
Verbotfunktionen herum strukturiert gedacht wurde. Das zirkuläre
Denken der Nachmoderne hatte damit auch die Machttheorie erreicht. Macht
wurde nicht mehr in irgendeiner Institution entrückt gedacht, sondern
in einer Kette netzförmiger Organisationen. Widerstand gegen Machtverhältnisse
konnte nicht von einer großen Bewegung erwartet werden, die revolutionäre
Gegenmacht einsetzt. Die relationale Machtkonzeption wurde konsequent
durchgehalten:
in jedem Machtverhältnis ist immer schon Widerstand mit eingebaut.
Diese
Theorie der Macht ist für die Politikwissenschaft bisher nicht
operationalisierbar geworden. Dennoch ist sie ein wichtiger Beitrag
zum Selbstverständnis vieler neuer sozialer Bewegungen, vor allem
des Feminismus.
Beyme,
Klaus von: Die politischen Theorien der Gegenwart. Eine Einführung.
7. A. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1992. S. 142-143.
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Poststrukturalismus:
"[Der Poststrukturalismus wird] auch gelegentlich als "Neostrukturalismus"
bzw., nach dem methodischen Ansatz, "Dekonstruktivismus", eine in Frankreich
der späten 60er Jahre vom orthodoxen Strukturalismus sich abspaltende,
vorwiegend kritisch orientierte Richtung geistes- und sozialwissenschaftlicher
Forschung.
Die
Gruppe, die u. a. durch Michel Foucault, Julia Kristeva,
Gilles Deleuze, Félix Guattari,
Jean Baudrillard repräsentiert wird, hat bisher zwar
nicht die Geschlossenheit einer Schule, hat aber doch beträchtliche
internationale Gefolgschaft (in den USA und der BRD) gefunden. Die Einheit
der internationalen Gruppierung läßt sich deutlicher als
in irgendeiner Doktrin oder einer verbindlichen Programmatik am "Feindbild"
(Ulrich Horstmann, "Parakritik und Dekonstruktion. Eine Einführung
in den amerikanischen Poststrukturalismus") erkennen:
-
Der Distanzierung vom Strukturbegriff des älteren Strukturalismus,
- dem "Haß auf logozentrische Hierarchien",
- der Attacke auf "den idealistischen Vorrang
- der Identität vor der Nichtidentität,
- des Universellen vor dem Partikularen,
- des Subjekts vor dem Objekt,
- der spontanen Präsenz vor der sekundären Rhetorik,
- der zeitlosen Transzendenz vor der empirischen Geschichte,
- des Inhalts vor der Ausdrucksform" (M. Ryan, "Marxism and Deconstructionism"),
- der Rede vor der Schrift.
Nach
Harold Bloom, der neben Paul de Man, J. H. Miller,
Geoffrey Hartman der sogenannten Yale-Schule der Dekonstruktion
zugerechnet wird und zu den Vertretern des amerikanischen Poststrukturalismus
gehört, vollzieht der Poststrukturalismus im Bereich der Literaturwissenschaft
den Bruch mit dem vierfachen Credo der "Orthodoxie": der Anschauung,
das Kunstwerk besitze oder erzeuge
-
"Präsenz" ("the religious illusion"),
- "Einheit" ("the organic illusion"),
- "Form" ("the rhetorical illusion") oder
- "Sinn" ("the metaphysical illusion").
Der
Bruch mit Grundvoraussetzungen des traditionellen Kunstbegriffs involviert
insbesondere den Begriff der "Repräsentation" (der künstlerischen
Mimesis von Wirklichkeit).
Hinzu kommt, u. a. in Jean Baudrillards radikaler Kulturkritik,
-
die Zerstörung der Illusion kulturellen Fortschritts unter den
herrschenden Bedingungen,
- die Diagnose der kulturellen Situation der Gegenwart als einer Epoche
der Reproduktion.
Das
Verfahren poststrukturalistischer Text-Lektüre bezeichnet der Begriff
"Dekonstruktion", der fordert, daß die Analyse bei der Konstruktion
von Strukturen nicht innehalte, sondern bis zu deren Aufhebung fortgesetzt
werde.
Die
vorläufigen Bewertungen des Poststrukturalismus betonen sowohl
die Radikalität der Destruktion des kulturellen Erbes, der in der
post-liberalen Phase der historischen Entwicklung eine gewisse Berechtigung
zukomme (Robert Weiman), die Affinität zu feministischen
Ansätzen der Literaturforschung (Terry Eagleton), sowie
die literaturwissenschaftliche Fruchtbarkeit (Diskurs- und Intertextualitäts-Diskussion),
die tendenzielle Überschreitung von Kunst und Wissenschaft in der
diskursiven Praxis des Poststrukturalismus und seine bei aller Radikalität
des Bruchs bestehenden unterschwelligen Verknüpfungen mit den historischen
Ursprüngen der Literaturwissenschaft, nämlich der Rhetorik
der Romantik (Manfred Frank, "Was ist Neostrukturalismus?")."
Deubel,
Volker: Poststrukturalismus. In: Metzler Literatur Lexikon. Begriffe
und Definitionen. Hg. v. Günther und Irmgard Schweikle. 2., überarb.
A. Stuttgart: Metzler, 1990. S. 360-361.
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Was sind Diskurse?
"[...Von
Diskursen sprechen] all jene seit den 60er Jahren aufgetretenen Denkrichtungen,
die die Materialität und die Macht- und Subjekteffekte von historisch
je spezifischen Aussageformen behandeln. Diese Diskurstheorien fassen
Diskurse im strikten Sinne als materielle Produktionsinstrumente auf,
mit denen auf geregelte Weise soziale Gegenstände wie "Wahnsinn"
(vgl. Foucault [in "Wahnsinn und Gesellschaft"]1961),
"Sexualität" (Foucault [in "Sexualität und Wahrheit"
Bd. 1-3], 1976-1984), "Normalität" ([Foucault in
"Überwachen und Strafen" und "Sexualität und Wahrheit"], Link
[in "Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert
wird"], 1996) und die ihnen entsprechenden Subjektivitäten produziert
werden. Geht man von den Analysen Michel Foucaults aus,
dann lassen sich in modernen Gesellschaften hochgradig spezialisierte
Wissensbereiche voneinander abgrenzen, die jeweils relativ geschlossene
Spezialdiskurse ausgebildet haben. Sie können ihrerseits, je nach
Theorieoption, als Resultat zunehmender gesellschaftlicher Ausdifferenzierung
(Niklas Luhmann) bzw. Arbeitsteilung (Karl Marx) angesehen werden. Die
institutionalisierte Rede innerhalb solcher differenzierter Wissensbereiche
läßt sich als je spezifischer Diskurs verstehen, wobei "Diskurs"
immer nur die sprachliche Seite einer weiterreichenden "diskursiven
Praxis" meint, die das gesamte Ensemble von Verfahren der Wissensproduktion
wie Institutionen, Sammlung, Kanalisierung, Verarbeitung, autoritative
Sprecher, Regelungen der Versprachlichung, Verschriftlichung und der
Medialisierung umfaßt. Diskurse im Sinne der an die Arbeiten Foucaults
anschließenden Theorien sind demnach dazu bestimmt, daß
sie sich auf je spezielle Wissensausschnitte (Spezialdiskurse) beziehen,
deren Grenzen durch Regulierungen dessen, was sagbar ist, was gesagt
werden muß und was nicht gesagt werden kann, gebildet sind, sowie
durch ihre je spezifische Operativität [...]."
Gerhard,
Ute u. Jürgen Link, Rolf Parr: Diskurstheorien und Diskurs. In:
Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hg. v. Ansgar Nünning.
Stuttgart u. Weimar: Metzler, 1998. S. 96.
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Der Aufstand
der Zeichen
Das unvollendete Projekt der Aufklärung hatte in der Trümmerzeit,
in Form der Rückkehr aufgeklärten Denkens aus dem Exil, einen
wesentlichen Entwicklungsschub erhalten; die "verspätete Nation"
(Helmuth Plessner), versuchte, Anschluß an westliche Traditionen
zu gewinnen. Am Ende der retardierten Phase der Wirtschaftswunderzeit
mit ihrem praktizierten Materialismus erbrachte die 68er-Bewegung eine
Rezeption wichtiger, bislang ideologisch verschütteter aufklärerischer
"Bestände", die jedoch zu einem Teil sowohl beiden Revoltierenden
als auch bei ihren Gegnern und Nachfolgern nicht nur verlorengingen,
sondern ins Gegenteil sich verkehrten. Der Anspruch begrifflich-diskursiven
Denkens wird in den siebziger, vor allem in den achtziger Jahren als
Zwangsherrschaft empfunden; die Dinge sollen nicht mehr so "genau" genommen
werden; gegenüber steriler Ableitungslogik entwickelt sich ein
Sinnlichkeitsverlangen, das mit bilderreicher Sprache artikuliert wird.
Der Rückkehr der Aufklärung aus Amerika in der Bundesrepublik,
vor allem in Gestalt der Frankfurter Schule (mit Adorno, Horkheimer,
Marcuse) in den fünfziger Jahren, entspricht zwei Dezennien
später die Rückkehr romantisch affirmativen Denkens aus Frankreich.
Die dort ansässigen Virtuosen theoretischer Unschärfe (ausgerichtet
auf die "Verstimmung der Köpfe zur Schwärmerei") rekurrieren
nicht nur auf den deutschen Irrationalismus, mit besonderer Vorliebe
für Nietzsche, sondern sind auch tief beeinflußt vom sprachalchimistischen
Philosophieren Heideggers; außerdem bewegen sie sich geschmeidig
in einer reichlich verzweigten ästhetischen "Fließstruktur":
Flaubert, Proust und Bataille bei Roland Barthes; Nietzsche
und Heidegger, Mallarmé und Artaud bei Jacques Derrida;
Nietzsche, Magritte und Bataille bei Michel Foucault;
Mallarmé und Lautréamont, Joyce und Artaud bei Julia
Kristeva, Freud bei Jacques Lacan; Nietzsche und
Bataille bei Jean Baudrillard; Nietzsche und Adorno bei
Jean-Francois Lyotard.
Die neokonservativen Feindbilder wie Massenkultur, Standardisierung,
Grammatik, Kommunikation und der angeblich allmächtige Gleichschaltungsdruck
des modernen Sozialstaates bekräftigen die substantielle Verwandtschaft
von Poststrukturalismus und Postmoderne. Jegliche Form von politischem
Engagement in der Kunst wird für obsolet erklärt. Die Einsicht,
so Andreas Huyssen, daß das Subjekt sich in der Sprache konstituiert,
und die Vorstellung daß es nichts außerhalb des Textes gebe,
"haben zur Privilegierung des Linguistischen und Textuellen geführt,
wie sie von den Berührungsängsten des Ästhetizismus und
Formalismus seit langem bekannt sind". Die Semiotik ist von der Semantik
abgelöst; Inhalte und Gehalte spielen eine untergeordnete Rolle.
Nicht länger stünden wir einem Modernismus des "Zeitalters
der Angst" gegenüber, dem asketischen und quälenden Modernismus
eines Kafka oder Schönberg, einem Modernismus der Negativität,
des Wertezerfalls und der Entfremdung, der Ambiguität und Abstraktion,
einem Modernismus des trotz allem eher geschlossenen und vollendeten
Werks. Statt dessen biete uns die poststrukturalistische Lektüre
(mit Ausnahme vielleicht Paul de Mans) einen Modernismus,
der spielerischer Transgressionen und eines nicht endenden Webens von
Textualität, einem Modernismus, der sich legitimiert in seiner
rigoros ironischen Ablehnung von Repräsentation und Realität,
von Subjektivität und Geschichte, einem Modernismus, der sich recht
dogmatisch gibt in seiner Verurteilung von "présence" und dem
damit einhergehenden Loblied auf Abwesenheiten und Entropien jeglicher
Art, in der Sicht von Roland Barthes nicht Angst, sondern "joissance",
ekstatisches Glück, hervorbringen.
"Existieren" steht im Zentrum des "Denkens", das deshalb auch "Beschwörung"
der Reflexion vorzieht. Der "Versuchung", Sinn zu erzeugen, will z.
B. Bataille nicht erliegen. Hegels Denkart habe sich "in Abhängigkeit
von der knechtischen Arbeit entwickelt" [(vgl. dazu auch: Jacques
Derrida: "Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie.
Ein rückhaltloser Hegelianismus". In: "Die
Schrift und die Differenz")]. Die heilige, poetische, auf die Ebene
der ohnmächtigen Schönheit beschränkte "Rede" behalte
aber allein die Fähigkeit, die volle Souveränität zu
manifestieren [(vgl. Derridas "Phonozentrismus" und
"Logozentrismus")].
Jacques Derrida (Bild)
Für Jean Baudrillard bedeutet der "Aufstand
der Zeichen" eine Absage an das Zeitalter der Produktion, der Ware und
der Arbeitskraft - Aufhebung von Vergesellschaftung. Die Zeit der Re-Produktion
sei die Zeit der Codes, der Streuung und der totalen Austauschbarkeit
der Elemente (vgl. Baudrillard: "Kool
Killer oder Der Aufstand der Zeichen").
Über Zeichen kann man sich verständigen, wenn sie Inhalte
transportieren und ein Konsens über Bedeutungsgehalte innerhalb
eines allgemein akzeptierten Begründungszusammenhangs hergestellt
wird. Die postmodernen Freiheitseruptionen gegenüber den "schrecklichen
Vereinfachern" der Vernunft, dem "Terrorismus der Aufklärung",
werden jedoch zum Selbstzweck. Die diskursive Last logischen Argumentierens,
die "Anstrengung des Begriffs" (die ja immer auch "moralisch", an der
Sinnfrage orientiert ist), wird abgeworfen; man setzt auf die Farbigkeit
des unbefragten Soseins; es kommt nicht darauf an, was warum geschieht,
sondern daß etwas und wie es geschieht. Das philosophische L´art-pour-l´art-Prinzip,
die Isolierung des Geschehens, des Vorkommnisses, des Reizes, "entwaffnet"
integrierendes Denken.
Das
Unbestimmte, das Fragezeichen, wird zum Faszinosum; die Suche nach Antwort
nicht nur suspendiert, sondern eskamotiert. Pläsier bedeutet Genuß
von Reiz und nicht Suche nach Wahrheit. Textual formuliert: Die großen
"Erzählungen" (die "wissenslegitimierenden Rahmenerzählungen"
von der Fortschrittsgeschichte einerseits, vom spekulativen Geist und
dem zugeordneten Ziel der "Bildung" andererseits) haben die Glaubwürdigkeit
verloren. Die idealistischen wie ideologischen, systematischen wie transzendierenden
"Entwürfe" erweisen sich als "Fiktionen". Diffusion und Entropie
haben die universalen Weltbilder, vor allem auch die marxistische Ideologie,
erfaßt und zerstört. Der "neue Humanismus", so André
Glucksmann, gehe aus dem Zerfall, der als solcher erkannt und gefeiert
werde, hervor: dem Zerfall der sogenannten "humanistischen", weltentrückt-bigotten
oder weltlich-erbaulichen Illusionen, die uns das vergangene Jahrhundert
hinterlassen haben. Dieser gleichsam "negative Humanismus" enttäusche
jene, die nach Gewißheit lechzten. Wie man im Handumdrehen mit
einem Gedankenblitz und in einem einzigen Band alle Probleme der Menschen
löse, solche großspurigen Versprechungen fehlten in keinem
Wahlprogramm und gereichten jedem literarisch getönten Glaubensbekenntnis
im Klappentext zur Zierde (vgl. Glucksmann: "Der negative
Humanismus. Eine neue Protestkultur in Frankreich").
Die
pluralistische, polyvalente Postmoderne durchkreuzt Totalität und
damit die zum Totalitarismus neigenden Globalmodelle; sie beschränkt
sich auf die "kleinen Erzählungen", die nicht in eine Hierarchie,
geschweige denn in ein System gebracht werden. Solche Entzauberung systematischen
Denkens als Folge der Entzauberung der Welt durch systematisches Denken
(Bankrott der mechanisch-rationalistischen Weltbildes), verbunden mit
einer radikalen Subjektkritik, begreift sich als postmoderne Moral.
Das Denken, das die Natur bloß spiegelt, um sie zu beherrschen,
wird nicht widerlegt, sondern verabschiedet - ein Ansatz, der mit der
"undogmatischen 'Wildheit', der vernunftskeptischen Heftigkeit des aktuellen
ästhetischen und politischen Kulturklimas eigentümlich korrespondiert."
Diese Philosophie entsprach bei ihrem entstehen dem Kulturideal bescheidener,
regionalistischer Kleinteiligkeit ("small is beautiful"), der innerlichen,
des Gewesenen sich erinnernden Reaktion auf intellektuelle, städtebauliche
und industrielle Gigantomanie. [...]
Gegen
den französischen Post- und Neostrukturalismus, gegen seine Thesen
(seine "Rede") vom "Tod des Menschen", von der "Auflösung des Subjekts",
von der "Beliebigkeit der Wahrheit", vom "Spiel der Geschichte", von
der "Lächerlichkeit der Vernunft" formieren sich diejenigen, die
auf die Dialektik der Aufklärung nicht mit einer ihrerseits sich
verabsolutierenden Vernunftkritik reagieren, sondern "ganzheitliche
Vernunft" zu rekonstruieren und rekonstituieren trachten [(vgl. Umberto
Eco, Hans Jonas)]."
Glaser,
Hermann: Kleine Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. 1945-1989.
2. A. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 1991. S. 394-396.
Buch
bei der Bundeszentrale für polit. Bildung bestellen
Postmoderne
"[Die Postmoderne ist eine Sozialtheorie, die von] französischen
Philosophen und Soziologen entworfen [wurde und die besagt, daß]
die gesellschaftlichen Umbrüche der Nachkriegszeit zu einer für
die Entwicklung der Individuen möglicherweise förderlichen
Befreiung von traditionellen sozialen Normen führen könnten
[...].
[...]
Die Postmoderne ist die erste historische Epochenbezeichnung bzw. Stilrichtung,
die häufig als "Danach" - nach der Moderne angesehen wird. Das
steht aber im Widerspruch zum Selbstverständnis ihrer Vertreter,
die die Postmoderne als eine Art Grenzüberschreitung oder Fortentwicklung
der Moderne werten (W. Welsch, "Unsere postmoderne Moderne"). Was an
der Postmoderne neu ist, kann besser verstanden werden, wenn man sich
einige wenige Merkmale der Moderne - der Geschichtsepoche, die folgend
auf das Mittelalter auch als "Neuzeit" bezeichnet wird, vergegenwärtigt.
Ihr Beginn wird in der Regel auf die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert
datiert. Mit der Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus (1492)
begann die Erforschung des Globus; mit den Experimenten Galileis - wie
der gezielten Beobachtung der Planeten durch optische Geräte, der
Entdeckung der Pendelgesetze - wurde die moderne Naturwissenschaft begründet,
deren Entwicklung bis heute das Dasein bestimmt.
Als
zweites, gleichzeitiges Ereignis ist die Reformation zu nennen, weil
sie sich nicht nur auf religiöse Glaubensinhalte ausgewirkt hat,
sondern auf Vorstellungen vom Menschen als Individuum. Indem sie den
einzelnen in seinem Verhältnis zu Gott von der Vermittlung durch
die Kirche und ihre Diener freisetzte (Protestantismus), trug sie dazu
bei, daß sich die Menschen nicht mehr nur als Angehörige
eines Standes verstanden, sondern als Person. Die Aufklärung, die
bürgerlichen Revolutionen, der gesellschaftliche Wandel vom Feudalismus
über die Klassengesellschaften bis zum Ringen um ein zustimmungswürdiges
Verhältnis zwischen Person und Gesellschaft waren die Folgen.
Fortschritt,
ein Schlüsselbegriff der Moderne, war bis in das 20. Jahrhundert
hinein positiv besetzt. Die Weltkriege, die nationalsozialistische und
die stalinistische Diktatur, das Elend in der Dritten Welt und die Gefährdung
der natürlichen Lebensgrundlagen durch Technik und Industrie haben
dem alten Fortschrittsglauben den Boden entzogen. Die Theorie der Postmoderne
ist jedoch nicht aus einer Globalkritik an der Moderne erwachsen. Postmoderne
Wissenschaftler (wie [Michel] Foucault, [Jean-Francois]
Lyotard, [Jean] Baudrillard) begründen
ihre Theorie u. a. mit folgenden Beobachtungen und Erfahrungen: Die
durch (elektronische) Kommunikationsnetze global wirkende Medien- und
Werbeindustrie habe dazu geführt, daß "Kultur" (z. B. Theater,
Konzerte) sich von der sozialen Lebenswelt immer mehr ablöst und
den Menschen nur noch in Form vielfältiger Reproduktion [(vgl.
auch Walter Benjamin, "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit")
in den Medien begegnet; Glieder des Gemeinwesens hätten immer seltener
Gelegenheit, sich außerhalb ihrer Bezugsgruppe im Blick auf eine
gemeinsame Vergangenheit oder Zukunft zu verständigen; verbunden
damit sei ein zunehmender Verlust der auf gemeinsame, aktive Erfahrungen
angewiesenen Fähigkeit zur direkten Kommunikation. Die Folge sei
wachsende Orientierungslosigkeit. Die diffuse Vielfalt, Widersprüchlichkeit,
Beliebigkeit höbe die Bedingungen für die Möglichkeit
auf, daß sich die Menschen in Begegnungen mit anderen zur Person
entwickeln könnten, die zunehmende Virtualität der Neuen Medien
erlaube es nicht mehr, Wirklichkeit und Diktion zu unterscheiden.
So
sprechen die postmodernen Philosophen vom "dezentrierten Subjekt" (seiner
Mitte verlustig gegangen), ja von seinem "Ende" - und damit dem Abschied
von einer Leitvorstellung der Moderne, der sich auch im - vermuteten?
- "Ende der großen Erzählung" (J. F. Lyotard,
"Das postmoderne Wissen") abzeichne.
Die
Analyse, wenn auch nicht alle ihre Konsequenzen, wird von zahlreichen
Zeitdiagnostikern geteilt. Sie läßt sich schon aus der "Dialektik
der Aufklärung" (Max Horkheimer und Theodor W. Adorno,
1945) herauslesen. Der fundamentale Unterschied liegt jedoch darin,
daß die postmodernen Theorien die Auflösung bisheriger Bedingungen
als eine Chance gesehen wird: zu individueller Differenzierung, zur
Entfaltung unterschiedlicher Identitäten, zur "Selbsterfindung"
des Menschen, unabhängig von Normen und Erwartungen der Gesellschaft.
Hier
setzt in der Nachfolge von Kant und Hegel - die Kritik der an den Traditionen
der Moderne orientierten Philosophie an; es sei notwendig und möglich,
das "unvollendete Geschäft der Aufklärung", die "Rekonstruktion
des alteuropäischen Erbes" fortzuführen (vgl. Jürgen
Habermas, "Moral und Sittlichkeit"). Demgemäß sind individuelle
Entfaltung und Selbstverwirklichung angewiesen auf eine Anerkennung
anderer, die nicht mit Zustimmung zu verwechseln ist. Sie stellt sich
vielmehr her in Auseinandersetzungen um die Zustimmungswürdigkeit
von Argumenten, wobei das Andere und der Andere geduldet werden; sie
beruht auf dem Bestand gemeinsamer Werte, die sich auf die Achtung vor
der Person der anderen gründet. Hilfe bei dem Bemühen, zu
sich selbst zu kommen, kann der Mensch nur in etwas finden, was er selbst
nicht ist.
In
diesem Sinne war in den 80er Jahren von Philosophen und Sozialwissenschaftlern
unterschiedlicher Richtungen von der "Unvermeidbarkeit ethischer Reflexion"
gesprochen worden, weil Sinn und Ziele politischen Tuns politisch allein
nicht ausreichend zu begründen seien.
So
gesehen, stellt sich die Postmoderne allein in ihrem Beharren auf Beliebigkeit
- auch der Werte - als eine apolitische Theorie heraus: Wie sollen die
zur Selbsterfindung gelangten Einzelnen angesichts der Überlebensprobleme
der Gegenwart und der Zukunft zu gemeinsamem politischen Handeln gelangen?
Und wozu noch der Kampf für gerechte und gegen ungerechte Verhältnisse,
wenn keine Maßstäbe mehr gelten sollen? Andererseits kann
postmoderne Theorie dazu beitragen zu erkennen, was am Geschäft
der Moderne unvollendet geblieben ist.
Hilligen,
Wolfgang: Postmoderne. Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik.
Hg. v. Hanno Drechsler. Wolfgang Hilligen, Franz Neumann. 9., neubearb.
u. erw. A. München: Vahlen, 1995. S. 649-651.
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