Was ist Poststrukturalismus?

Das Feindbild des Poststrukturalismus:

"Postmoderne Philosophen wollen all die Überzeugungen radikal in Zweifel ziehen, die sich aus der Aufklärung ableiten und immer noch in unserer Kultur [...] vorherrschend sind. [Der Poststrukturalismus lehnt folgendes Denken vollkommen ab:]


1. Die Existenz eines abgegrenzten, einheitlichen Subjekts. Zu den angebbaren Eigenschaften dieses Subjekts
der Aufklärung gehört u. a. eine Vernunft, die in der Lage ist, ihre eigenen Prozesse wie die "Naturgesetze" zu begreifen.

2. Die Vernunft und ihre "Wissenschaft", die Philosophie, können eine objektive, zuverlässige und universelle Begründung des Wissens liefern.

3. Das Wissen, das durch den richtigen Gebrauch der Vernunft gewonnen wird, ist "wahr" - so gibt dieses Wissen z. B. Reales und Unveränderliches (Universales) über unser Denken und über die Struktur der natürlichen Welt wider.

4. Die Vernunft selbst hat transzendentale und universale Qualitäten. Sie existiert unabhängig von der kontingenten Existenz des Ich. - Körperliche, historische und soziale Erfahrungen beeinträchtigen weder die Struktur der Vernunft noch ihre Fähigkeit, überzeitliches Wissen zu produzieren.

5. Zwischen Vernunft, Autonomie und Freiheit gibt es komplexe Beziehungen. Alle Ansprüche auf Wahrheit und legitime Autorität müssen dem Urteil der Vernunft unterworfen werden. Freiheit besteht im Gehorsam gegenüber Gesetzen, die mit den notwendigen Resultaten des richtigen Gebrauchs der Vernunft übereinstimmen. (Die Regeln, die für mich als vernünftiges Wesen richtig sind, sind für alle anderen vernünftigen notwendigerweise auch richtig.) Indem ich solchen Gesetzen gehorche, folge ich dem besten überzeitlichen Teil meiner selbst (der Vernunft); ich erweise mich als autonom und bestätige meine Existenz als freies Wesen. Durch solche Handlungen entkomme ich einer determinierten oder nur zufälligen Existenz.

6. Wenn Autoritätsansprüche durch die Vernunft legitimiert werden, kann der Konflikt zwischen Wahrheit, Wissen und Macht überwunden werden. Die Wahrheit kann der Macht dienen, ohne Schaden zu nehmen, und umgekehrt sind Freiheit und Fortschritt gesichert, wenn Wissen im Dienst der Macht genutzt wird. Wissen kann beides sein: neutral (= universell und nicht in Partialinteressen gegründet) und für die Gesellschaft von Vorteil.

7. Die Wissenschaft, das Paradebeispiel für den richtigen Gebrauch der Vernunft, ist zugleich das Paradigma für jedes wahre Wissen. Die Wissenschaft ist in ihren Methoden und Inhalten neutral, in ihren Ergebnissen aber dient sie dem Allgemeinwohl. Denn durch wissenschaftliche Forschung können wir die "Naturgesetze" zum Wohle der Gesellschaft nutzen. Um den wissenschaftlichen Fortschritt zu sichern, müssen Wissenschaftler allerdings frei sein, den Regeln der Vernunft zu folgen, statt sich für "Interessen" einspannen zu lassen, die außerhalb des Diskurses der Vernunft entstehen.

8. In gewisser Hinsicht ist die Sprache transparent. So wie der richtige Gebrauch der Vernunft zu Wissen führt, das Wirkliches repräsentiert, so ist die Sprache nichts als das Medium, in dem und durch das die Repräsentation erscheint. Es gibt eine Entsprechung zwischen "Wort" und "Ding" (wie zwischen einer wahren
Aussage und dem Wirklichen). Gegenstände werden nicht sprachlich (oder sozial) konstruiert, sie werden
dem Bewußtsein durch Benennung und richtigen Gebrauch der Sprache nur präsent gemacht. [...]"

Aus:

Flax, Jane: Postmoderne und Geschlechter-Beziehungen in der feministischen Theorie. In: Der Mensch als soziales Wesen. Sozialpsychologisches Denken im 20. Jahrhundert. Hg. v. Heiner Keupp. 2. A. München: Piper, 1998. S. 262-271. [deut., gekürzt]

Vollständiges Original:
Flax, Jane: Thinking Fragments. Postmodernism and Gender-Relations in Feminist Theory. In: Feminisim/ Postmodernism. Hg. v. Linda J. Nicholson. New York and London: Routledge, 1990. S. 39-62. [amerik.]

Buch bei amazon.de bestellen (deutsch)
Buch bei amazon.co.uk bestellen (englisch)

 

Poststrukturalismus:

"[U]nter dem Begriff Poststrukturalismus, der oft fälschlicherweise als Synonym zum Begriff Postmoderne gehandelt wird, werden eine Anzahl von Philosophen (Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Michel Foucault, Luce Irigaray, J. F. Lyotard), Literaturkritikern (Roland Barthes), Soziologen (Jean Baudrillard) und Psychoanalytikern (Pierre Félix Guattari, Julia Kristeva, Jacques Lacan) gebündelt. Entwickelt wurde der Poststrukturalismus zum größten Teil in Frankreich; insbesondere in einem kleinen Zirkel von sich gegenseitig befruchtenden Denkern im Paris der späten 60er - 80er Jahre (man spricht daher oft vom Poststrukturalismus als "französischer Schule"), wobei der Höhepunkt der internationalen Rezeption des Poststrukturalismus in den 80er Jahren liegt.



Gilles Deleuze (Bild)

Wie sein Name besagt, entwickelt sich der Poststrukturalismus aus einer komplexen Revision und Neudefinition des wiederum insbesondere französischen Strukturalismus (Claude Lévi-Strauss, Ferdinand de Saussure, Roman Jakobson, Louis Althusser). Bedeutend beim Poststrukturalismus, der den Strukturalismus modifizierend kritisch weiterentwickelt, ist der Rekurs auf die linguistische Wende (linguistic turn), d. h. auf die Beeinflussung verschiedener Wissenschaften durch Linguistik und Semiotik. Diese gemeinsame Basis erlaubt eine starke Interdisziplinarität, da alle Spielarten des Poststrukturalismus, ob nun Philosophie, Soziologie, oder Psychoanalyse, ihre spezifischen Theorien aus einer rigorosen Semiotisierung der Welt und der Wissenschaft heraus entwickeln. So ist den, sich teilweise kritisch voneinander abhebenden, Versionen des Poststrukturalismus gemeinsam der Rückgriff auf die, insbesondere Saussuresche, Zeichentheorie, in der sich das Zeichen aus der Triade Signifikat (Vorstellung, Bezeichnetes), Signifikant (Lautbild, Bezeichnendes) und Referent (Ding, Objekt) zusammensetzt, wobei der Referent als "ausgeschlossenes Element" fungiert, welches der Zeichenproduktion zwar unterliegt (als Vakuum, das es zu füllen gilt), sie aber nicht direkt beeinflußt (vgl. dazu besonders Umberto Eco).

In den verschiedenen Versionen des Poststrukturalismus wird durchgehend die Idee, der zufolge das Signifikat höher zu bewerten ist als der lediglich "supplementäre" Signifikant, einer rigorosen Kritik unterzogen. Bei Derrida  geschieht dies mittels einer Dekonstruktion (ein Begriff der, obwohl genaugenommen nur auf die Derridasche Form des Poststrukturalismus anwendbar, weithin synonym mit der Verfahrensweise des Poststrukturalismus verwendet wird) "logozentrischer" [...], d. h. in der Metaphysik verhafteter, Texte. Die dekonstruktivistische Analyse legt in den untersuchten Texten die "Verdrängung" des Sprachmaterials zugunsten der Illusion unkontaminierter Bedeutung offen. In rhetorisch und konzeptuell höchst komplexen Texten führt Derrida die untersuchten Texte bis an die Grenze, an der sich die Ideen vom Ursprung, reiner Bedeutung sowie von gedanklicher und textueller Geschlossenheit auflösen. In einem im Laufe seiner Entwicklung immer verspielter und freier werdenden Duktus, der sich bewußt den Gesetzen eines philosophisch-wissenschaftlichen Textes entzieht, werden Derridas Schriften zu Abbildern eines Denkens, das sich dezidiert innerhalb der Spaltung von Signifikat und Signifikant ausbreitet. Die durch die "Durchstreichung" der Ontologie und der Metaphysik erreichte Freiheit wird dem Poststrukturalismus oft als Verspieltheit angelastet [(vgl. Richard Rorty)]. Bei Lacan, der stärker im Strukturalismus verhaftet ist als Derrida, zeigt sich eine ähnliche Aufwertung des Sprachmaterials, die Lacan aus der Freudschen Theorie [...] heraus arbeitet. Zurückgreifend auf die Theorien Jakobsons bildet Lacan die linguistischen Begriffe Metapher und Metonymie auf die psychoanalytischen Begriffe Verdichtung und Verschiebung ab. Aus dieser Analogie entwickelt er den Begriff eine Unbewußten, das "strukturiert ist wie eine Sprache". In der Kritik von Deleuze und Guattari wird die Lacansche Theorie gegen sich selbst gelesen, wobei besonders das Gefangensein der Theorie in dem sozialen Projekt der Ödipalisierung hervorgehoben wird. War das Ergebnis der psychoanalytischen Kur ein Subjekt, das sich mit seiner Gespaltenheit abgefunden hat, so propagieren Deleuze und Guattari ein Subjekt, das sich in Felder und Ströme von Intensitäten auflöst.

Auch Baudrillard macht sich in seiner Kritik des klassischen Marxismus die Linguistik zunutze. Laut Baudrillard sind alle ökonomischen Gesetze dem Gesetz der Sprache und Struktur des arbiträren Codes, d. h. der Sprache, unterworfen und spiegeln dieses wider. Baudrillards Theorie zufolge ist in der postkapitalistischen Welt die Realität ausgelöscht und in eine hyperreale Simulation überführt worden (Simulakrum). Diese ist künstlich geschaffen und vollständig den Werten des Kapitalismus unterworfen.

Wichtig für das Projekt des Poststrukturalismus, sowie für seine Rezeption, ist im besonderen Maße seine sowohl implizite als auch explizite Neudefinition des Subjektbegriffs, der sich nicht mehr in einen humanistischen Rahmen zwängen läßt, obwohl die Aversion zwischen Poststrukturalismus und Humanismus oft auf Mißverständnissen beruht. Das poststrukturalistische Subjekt ist ohne Ursprung und ohne Einheit. Es ist "im tiefsten Inneren" ein Zeichenprodukt; ein in der Sprache gefangenes und durch Sprache, im weiteren Sinne durch Kultur definiertes Wesen.

Insbesondere der Feminismus hat sich diese Sichtweise zunutze gemacht, um die Stellung der Frau (als dem Signifikat eines phallozentrischen Systems und einer phallokratischen Sprache) frei- und umzuschreiben [...]. Solche Neudefinitionen sind möglich, da der Poststrukturalismus die Realität als künstlich erzeugtes Produkt versteht und somit als inhärent fiktiv. Ein der Logik der Sprache unterworfenes Subjekt ist unweigerlich ein eminent literarisches.

Dies ist wohl der Grund dafür, daß der Poststrukturalismus insbesondere die Literaturtheorie beeinflußt hat, die in diesem Subjekt das literarische Subjekt wiederfand. Im Gegensatz zum Strukturalismus, dem es darum ging, aus verschiedenen Oberflächenstrukturen eine Tiefenstruktur zu abstrahieren und somit aus verschiedenen Texten eine allgemeine Bedeutung zu destillieren (im Bereich der Literaturtheorie und der Anthropologie denke man z. B. an Lévi-Strauss´ Mythentheorie und -kritik), geht es den Poststrukturalismus gerade darum zu zeigen, daß eine solche Trennung nicht aufrechtzuerhalten ist (ein Schlüsselwerk in diesem Übergang ist [Michel] Foucaults Buch "Le mots et les choses", 1966, [deut.] "Die Ordnung der Dinge").

Generell propagiert der Poststrukturalismus die Gleich stellung der Ebenen des Signifikanten und des Signifikats bei gleichzeitiger Auslassung des Referenten als einem erst nachträglich erstellten, immer schon versprachlichten Begriff. In der Literaturtheorie, z. B. in [Roland] Barthes´ "S/Z" (1970), führt dies dazu, daß verschiedene Lese- und Interpretationsebenen parallel zueinander oder, wie Deleuze und Guattari sagen würden, "transversal" einen Text durchkreuzen, ohne ihn auf eine spezifische Bedeutung zu reduzieren.-

 

Dieser Rekurs auf anscheinend frei flottierende, oder in Derridas Vokabular "disseminierende" (vgl. Dissémination), Leseversionen, in deren Licht selbst die aufgefächertsten Interpretationen der hermeneutischen Schule noch zu zentriert erscheinen, haben den Poststrukturalismus sowohl im engeren literatur-theoretischen Kritik einer "anything goes-Attitüde" ausgesetzt als auch im weiteren Sinne dem Vorwurf, elitär und unpolitisch zu sein.

Besonders in letzter Zeit gibt es Versuche des Poststrukturalismus, sich eben diesen Kritiken zu stellen. So werden insbesondere in den Kulturwissenschaften Versuche unternommen, Spannungen zwischen verschiedenen Zeichensystemen zu behandeln."

Berressem, Hanjo: Poststrukturalismus. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hg. v. Ansgar Nünning. Stuttgart u. Weimar: Metzler, 1998. S. 439-440.

Buch bei amazon.de bestellen

 

Poststrukturalismus und Macht

"[...] Mit der Entzauberung des Staates durch die weiterentwickelte Systemtheorie der 70er und 80er Jahre lösten sich die Machtanalysen in Netzwerkanalysen auf. Der französische Poststrukturalismus hat theoretisch eine weitere Verflüssigung der Macht vorgenommen. In der französischen Tradition war die Macht vor allem negativ gesehen worden. Es ging darum, sie rechtlich zu begrenzen. Foucault (in: "Dispositive der Macht") ging einen Schritt weiter und versuchte, auch die technisch-positive Seite der Macht zu entlarven. Die Machtkritik der französischen Linken war auf das politische System als ganzes gerichtet. Für Foucault (vgl. ebd.) mußte eine zeitgemäße Machtkritik über die marxistische und antiautoritäre Machtkritik hinausgehen. Der Staat wurde nicht als Verkörperung der Macht angesehen. Der Staat konnte für Foucault nur auf der Grundlage vorher bestehender Machtverhältnisse funktionieren. Er war noch immer eine Art Überbau, aber nicht über der Ökonomie, sondern Überbau über eine ganze Reihe von Machtnetzen, die ihrerseits von einer Art Übermacht konditioniert wurden, die um Verbotfunktionen herum strukturiert gedacht wurde. Das zirkuläre Denken der Nachmoderne hatte damit auch die Machttheorie erreicht. Macht wurde nicht mehr in irgendeiner Institution entrückt gedacht, sondern in einer Kette netzförmiger Organisationen. Widerstand gegen Machtverhältnisse konnte nicht von einer großen Bewegung erwartet werden, die revolutionäre Gegenmacht einsetzt. Die relationale Machtkonzeption wurde konsequent durchgehalten:

in jedem Machtverhältnis ist immer schon Widerstand mit eingebaut.

Diese Theorie der Macht ist für die Politikwissenschaft bisher nicht operationalisierbar geworden. Dennoch ist sie ein wichtiger Beitrag zum Selbstverständnis vieler neuer sozialer Bewegungen, vor allem des Feminismus.

Beyme, Klaus von: Die politischen Theorien der Gegenwart. Eine Einführung. 7. A. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1992. S. 142-143.

Buch bei amazon.de bestellen

 

Poststrukturalismus:

"[Der Poststrukturalismus wird] auch gelegentlich als "Neostrukturalismus" bzw., nach dem methodischen Ansatz, "Dekonstruktivismus", eine in Frankreich der späten 60er Jahre vom orthodoxen Strukturalismus sich abspaltende, vorwiegend kritisch orientierte Richtung geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung.

Die Gruppe, die u. a. durch Michel Foucault, Julia Kristeva, Gilles Deleuze, Félix Guattari, Jean Baudrillard repräsentiert wird, hat bisher zwar nicht die Geschlossenheit einer Schule, hat aber doch beträchtliche internationale Gefolgschaft (in den USA und der BRD) gefunden. Die Einheit der internationalen Gruppierung läßt sich deutlicher als in irgendeiner Doktrin oder einer verbindlichen Programmatik am "Feindbild" (Ulrich Horstmann, "Parakritik und Dekonstruktion. Eine Einführung in den amerikanischen Poststrukturalismus") erkennen:

- Der Distanzierung vom Strukturbegriff des älteren Strukturalismus,
- dem "Haß auf logozentrische Hierarchien",
- der Attacke auf "den idealistischen Vorrang
- der Identität vor der Nichtidentität,
- des Universellen vor dem Partikularen,
- des Subjekts vor dem Objekt,
- der spontanen Präsenz vor der sekundären Rhetorik,
- der zeitlosen Transzendenz vor der empirischen Geschichte,
- des Inhalts vor der Ausdrucksform" (M. Ryan, "Marxism and Deconstructionism"),
- der Rede vor der Schrift.

 

Nach Harold Bloom, der neben Paul de Man, J. H. Miller, Geoffrey Hartman der sogenannten Yale-Schule der Dekonstruktion zugerechnet wird und zu den Vertretern des amerikanischen Poststrukturalismus gehört, vollzieht der Poststrukturalismus im Bereich der Literaturwissenschaft den Bruch mit dem vierfachen Credo der "Orthodoxie": der Anschauung, das Kunstwerk besitze oder erzeuge

- "Präsenz" ("the religious illusion"),
- "Einheit" ("the organic illusion"),
- "Form" ("the rhetorical illusion") oder
- "Sinn" ("the metaphysical illusion").

Der Bruch mit Grundvoraussetzungen des traditionellen Kunstbegriffs involviert insbesondere den Begriff der "Repräsentation" (der künstlerischen Mimesis von Wirklichkeit).

Hinzu kommt, u. a. in Jean Baudrillards radikaler Kulturkritik,

- die Zerstörung der Illusion kulturellen Fortschritts unter den herrschenden Bedingungen,
- die Diagnose der kulturellen Situation der Gegenwart als einer Epoche der Reproduktion.

Das Verfahren poststrukturalistischer Text-Lektüre bezeichnet der Begriff "Dekonstruktion", der fordert, daß die Analyse bei der Konstruktion von Strukturen nicht innehalte, sondern bis zu deren Aufhebung fortgesetzt werde.

Die vorläufigen Bewertungen des Poststrukturalismus betonen sowohl die Radikalität der Destruktion des kulturellen Erbes, der in der post-liberalen Phase der historischen Entwicklung eine gewisse Berechtigung zukomme (Robert Weiman), die Affinität zu feministischen Ansätzen der Literaturforschung (Terry Eagleton), sowie die literaturwissenschaftliche Fruchtbarkeit (Diskurs- und Intertextualitäts-Diskussion), die tendenzielle Überschreitung von Kunst und Wissenschaft in der diskursiven Praxis des Poststrukturalismus und seine bei aller Radikalität des Bruchs bestehenden unterschwelligen Verknüpfungen mit den historischen Ursprüngen der Literaturwissenschaft, nämlich der Rhetorik der Romantik (Manfred Frank, "Was ist Neostrukturalismus?")."

Deubel, Volker: Poststrukturalismus. In: Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hg. v. Günther und Irmgard Schweikle. 2., überarb. A. Stuttgart: Metzler, 1990. S. 360-361.

Buch bei amazon.de bestellen

 

Was sind Diskurse?

"[...Von Diskursen sprechen] all jene seit den 60er Jahren aufgetretenen Denkrichtungen, die die Materialität und die Macht- und Subjekteffekte von historisch je spezifischen Aussageformen behandeln. Diese Diskurstheorien fassen Diskurse im strikten Sinne als materielle Produktionsinstrumente auf, mit denen auf geregelte Weise soziale Gegenstände wie "Wahnsinn" (vgl. Foucault [in "Wahnsinn und Gesellschaft"]1961), "Sexualität" (Foucault [in "Sexualität und Wahrheit" Bd. 1-3], 1976-1984), "Normalität" ([Foucault in "Überwachen und Strafen" und "Sexualität und Wahrheit"], Link [in "Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird"], 1996) und die ihnen entsprechenden Subjektivitäten produziert werden. Geht man von den Analysen Michel Foucaults aus, dann lassen sich in modernen Gesellschaften hochgradig spezialisierte Wissensbereiche voneinander abgrenzen, die jeweils relativ geschlossene Spezialdiskurse ausgebildet haben. Sie können ihrerseits, je nach Theorieoption, als Resultat zunehmender gesellschaftlicher Ausdifferenzierung (Niklas Luhmann) bzw. Arbeitsteilung (Karl Marx) angesehen werden. Die institutionalisierte Rede innerhalb solcher differenzierter Wissensbereiche läßt sich als je spezifischer Diskurs verstehen, wobei "Diskurs" immer nur die sprachliche Seite einer weiterreichenden "diskursiven Praxis" meint, die das gesamte Ensemble von Verfahren der Wissensproduktion wie Institutionen, Sammlung, Kanalisierung, Verarbeitung, autoritative Sprecher, Regelungen der Versprachlichung, Verschriftlichung und der Medialisierung umfaßt. Diskurse im Sinne der an die Arbeiten Foucaults anschließenden Theorien sind demnach dazu bestimmt, daß sie sich auf je spezielle Wissensausschnitte (Spezialdiskurse) beziehen, deren Grenzen durch Regulierungen dessen, was sagbar ist, was gesagt werden muß und was nicht gesagt werden kann, gebildet sind, sowie durch ihre je spezifische Operativität [...]."

Gerhard, Ute u. Jürgen Link, Rolf Parr: Diskurstheorien und Diskurs. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hg. v. Ansgar Nünning. Stuttgart u. Weimar: Metzler, 1998. S. 96.

Buch bei amazon.de bestellen

 

Der Aufstand der Zeichen

Das unvollendete Projekt der Aufklärung hatte in der Trümmerzeit, in Form der Rückkehr aufgeklärten Denkens aus dem Exil, einen wesentlichen Entwicklungsschub erhalten; die "verspätete Nation" (Helmuth Plessner), versuchte, Anschluß an westliche Traditionen zu gewinnen. Am Ende der retardierten Phase der Wirtschaftswunderzeit mit ihrem praktizierten Materialismus erbrachte die 68er-Bewegung eine Rezeption wichtiger, bislang ideologisch verschütteter aufklärerischer "Bestände", die jedoch zu einem Teil sowohl beiden Revoltierenden als auch bei ihren Gegnern und Nachfolgern nicht nur verlorengingen, sondern ins Gegenteil sich verkehrten. Der Anspruch begrifflich-diskursiven Denkens wird in den siebziger, vor allem in den achtziger Jahren als Zwangsherrschaft empfunden; die Dinge sollen nicht mehr so "genau" genommen werden; gegenüber steriler Ableitungslogik entwickelt sich ein Sinnlichkeitsverlangen, das mit bilderreicher Sprache artikuliert wird.

Der Rückkehr der Aufklärung aus Amerika in der Bundesrepublik, vor allem in Gestalt der Frankfurter Schule (mit Adorno, Horkheimer, Marcuse) in den fünfziger Jahren, entspricht zwei Dezennien später die Rückkehr romantisch affirmativen Denkens aus Frankreich. Die dort ansässigen Virtuosen theoretischer Unschärfe (ausgerichtet auf die "Verstimmung der Köpfe zur Schwärmerei") rekurrieren nicht nur auf den deutschen Irrationalismus, mit besonderer Vorliebe für Nietzsche, sondern sind auch tief beeinflußt vom sprachalchimistischen Philosophieren Heideggers; außerdem bewegen sie sich geschmeidig in einer reichlich verzweigten ästhetischen "Fließstruktur": Flaubert, Proust und Bataille bei Roland Barthes; Nietzsche und Heidegger, Mallarmé und Artaud bei Jacques Derrida; Nietzsche, Magritte und Bataille bei Michel Foucault; Mallarmé und Lautréamont, Joyce und Artaud bei Julia Kristeva, Freud bei Jacques Lacan; Nietzsche und Bataille bei Jean Baudrillard; Nietzsche und Adorno bei Jean-Francois Lyotard.

Die neokonservativen Feindbilder wie Massenkultur, Standardisierung, Grammatik, Kommunikation und der angeblich allmächtige Gleichschaltungsdruck des modernen Sozialstaates bekräftigen die substantielle Verwandtschaft von Poststrukturalismus und Postmoderne. Jegliche Form von politischem Engagement in der Kunst wird für obsolet erklärt. Die Einsicht, so Andreas Huyssen, daß das Subjekt sich in der Sprache konstituiert, und die Vorstellung daß es nichts außerhalb des Textes gebe, "haben zur Privilegierung des Linguistischen und Textuellen geführt, wie sie von den Berührungsängsten des Ästhetizismus und Formalismus seit langem bekannt sind". Die Semiotik ist von der Semantik abgelöst; Inhalte und Gehalte spielen eine untergeordnete Rolle. Nicht länger stünden wir einem Modernismus des "Zeitalters der Angst" gegenüber, dem asketischen und quälenden Modernismus eines Kafka oder Schönberg, einem Modernismus der Negativität, des Wertezerfalls und der Entfremdung, der Ambiguität und Abstraktion, einem Modernismus des trotz allem eher geschlossenen und vollendeten Werks. Statt dessen biete uns die poststrukturalistische Lektüre (mit Ausnahme vielleicht Paul de Mans) einen Modernismus, der spielerischer Transgressionen und eines nicht endenden Webens von Textualität, einem Modernismus, der sich legitimiert in seiner rigoros ironischen Ablehnung von Repräsentation und Realität, von Subjektivität und Geschichte, einem Modernismus, der sich recht dogmatisch gibt in seiner Verurteilung von "présence" und dem damit einhergehenden Loblied auf Abwesenheiten und Entropien jeglicher Art, in der Sicht von Roland Barthes nicht Angst, sondern "joissance", ekstatisches Glück, hervorbringen.

"Existieren" steht im Zentrum des "Denkens", das deshalb auch "Beschwörung" der Reflexion vorzieht. Der "Versuchung", Sinn zu erzeugen, will z. B. Bataille nicht erliegen. Hegels Denkart habe sich "in Abhängigkeit von der knechtischen Arbeit entwickelt" [(vgl. dazu auch: Jacques Derrida: "Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie. Ein rückhaltloser Hegelianismus". In: "Die Schrift und die Differenz")]. Die heilige, poetische, auf die Ebene der ohnmächtigen Schönheit beschränkte "Rede" behalte aber allein die Fähigkeit, die volle Souveränität zu manifestieren [(vgl. Derridas "Phonozentrismus" und "Logozentrismus")].




Jacques Derrida (Bild)

 

Für Jean Baudrillard  bedeutet der "Aufstand der Zeichen" eine Absage an das Zeitalter der Produktion, der Ware und der Arbeitskraft - Aufhebung von Vergesellschaftung. Die Zeit der Re-Produktion sei die Zeit der Codes, der Streuung und der totalen Austauschbarkeit der Elemente (vgl. Baudrillard: "Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen").

Über Zeichen kann man sich verständigen, wenn sie Inhalte transportieren und ein Konsens über Bedeutungsgehalte innerhalb eines allgemein akzeptierten Begründungszusammenhangs hergestellt wird. Die postmodernen Freiheitseruptionen gegenüber den "schrecklichen Vereinfachern" der Vernunft, dem "Terrorismus der Aufklärung", werden jedoch zum Selbstzweck. Die diskursive Last logischen Argumentierens, die "Anstrengung des Begriffs" (die ja immer auch "moralisch", an der Sinnfrage orientiert ist), wird abgeworfen; man setzt auf die Farbigkeit des unbefragten Soseins; es kommt nicht darauf an, was warum geschieht, sondern daß etwas und wie es geschieht. Das philosophische L´art-pour-l´art-Prinzip, die Isolierung des Geschehens, des Vorkommnisses, des Reizes, "entwaffnet" integrierendes Denken.

Das Unbestimmte, das Fragezeichen, wird zum Faszinosum; die Suche nach Antwort nicht nur suspendiert, sondern eskamotiert. Pläsier bedeutet Genuß von Reiz und nicht Suche nach Wahrheit. Textual formuliert: Die großen "Erzählungen" (die "wissenslegitimierenden Rahmenerzählungen" von der Fortschrittsgeschichte einerseits, vom spekulativen Geist und dem zugeordneten Ziel der "Bildung" andererseits) haben die Glaubwürdigkeit verloren. Die idealistischen wie ideologischen, systematischen wie transzendierenden "Entwürfe" erweisen sich als "Fiktionen". Diffusion und Entropie haben die universalen Weltbilder, vor allem auch die marxistische Ideologie, erfaßt und zerstört. Der "neue Humanismus", so André Glucksmann, gehe aus dem Zerfall, der als solcher erkannt und gefeiert werde, hervor: dem Zerfall der sogenannten "humanistischen", weltentrückt-bigotten oder weltlich-erbaulichen Illusionen, die uns das vergangene Jahrhundert hinterlassen haben. Dieser gleichsam "negative Humanismus" enttäusche jene, die nach Gewißheit lechzten. Wie man im Handumdrehen mit einem Gedankenblitz und in einem einzigen Band alle Probleme der Menschen löse, solche großspurigen Versprechungen fehlten in keinem Wahlprogramm und gereichten jedem literarisch getönten Glaubensbekenntnis im Klappentext zur Zierde (vgl. Glucksmann: "Der negative Humanismus. Eine neue Protestkultur in Frankreich").

Die pluralistische, polyvalente Postmoderne durchkreuzt Totalität und damit die zum Totalitarismus neigenden Globalmodelle; sie beschränkt sich auf die "kleinen Erzählungen", die nicht in eine Hierarchie, geschweige denn in ein System gebracht werden. Solche Entzauberung systematischen Denkens als Folge der Entzauberung der Welt durch systematisches Denken (Bankrott der mechanisch-rationalistischen Weltbildes), verbunden mit einer radikalen Subjektkritik, begreift sich als postmoderne Moral. Das Denken, das die Natur bloß spiegelt, um sie zu beherrschen, wird nicht widerlegt, sondern verabschiedet - ein Ansatz, der mit der "undogmatischen 'Wildheit', der vernunftskeptischen Heftigkeit des aktuellen ästhetischen und politischen Kulturklimas eigentümlich korrespondiert." Diese Philosophie entsprach bei ihrem entstehen dem Kulturideal bescheidener, regionalistischer Kleinteiligkeit ("small is beautiful"), der innerlichen, des Gewesenen sich erinnernden Reaktion auf intellektuelle, städtebauliche und industrielle Gigantomanie. [...]

Gegen den französischen Post- und Neostrukturalismus, gegen seine Thesen (seine "Rede") vom "Tod des Menschen", von der "Auflösung des Subjekts", von der "Beliebigkeit der Wahrheit", vom "Spiel der Geschichte", von der "Lächerlichkeit der Vernunft" formieren sich diejenigen, die auf die Dialektik der Aufklärung nicht mit einer ihrerseits sich verabsolutierenden Vernunftkritik reagieren, sondern "ganzheitliche Vernunft" zu rekonstruieren und rekonstituieren trachten [(vgl. Umberto Eco, Hans Jonas)]."

Glaser, Hermann: Kleine Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. 1945-1989. 2. A. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 1991. S. 394-396.

Buch bei der Bundeszentrale für polit. Bildung bestellen

 

Postmoderne

"[Die Postmoderne ist eine Sozialtheorie, die von] französischen Philosophen und Soziologen entworfen [wurde und die besagt, daß] die gesellschaftlichen Umbrüche der Nachkriegszeit zu einer für die Entwicklung der Individuen möglicherweise förderlichen Befreiung von traditionellen sozialen Normen führen könnten [...].

[...] Die Postmoderne ist die erste historische Epochenbezeichnung bzw. Stilrichtung, die häufig als "Danach" - nach der Moderne angesehen wird. Das steht aber im Widerspruch zum Selbstverständnis ihrer Vertreter, die die Postmoderne als eine Art Grenzüberschreitung oder Fortentwicklung der Moderne werten (W. Welsch, "Unsere postmoderne Moderne"). Was an der Postmoderne neu ist, kann besser verstanden werden, wenn man sich einige wenige Merkmale der Moderne - der Geschichtsepoche, die folgend auf das Mittelalter auch als "Neuzeit" bezeichnet wird, vergegenwärtigt. Ihr Beginn wird in der Regel auf die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert datiert. Mit der Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus (1492) begann die Erforschung des Globus; mit den Experimenten Galileis - wie der gezielten Beobachtung der Planeten durch optische Geräte, der Entdeckung der Pendelgesetze - wurde die moderne Naturwissenschaft begründet, deren Entwicklung bis heute das Dasein bestimmt.

Als zweites, gleichzeitiges Ereignis ist die Reformation zu nennen, weil sie sich nicht nur auf religiöse Glaubensinhalte ausgewirkt hat, sondern auf Vorstellungen vom Menschen als Individuum. Indem sie den einzelnen in seinem Verhältnis zu Gott von der Vermittlung durch die Kirche und ihre Diener freisetzte (Protestantismus), trug sie dazu bei, daß sich die Menschen nicht mehr nur als Angehörige eines Standes verstanden, sondern als Person. Die Aufklärung, die bürgerlichen Revolutionen, der gesellschaftliche Wandel vom Feudalismus über die Klassengesellschaften bis zum Ringen um ein zustimmungswürdiges Verhältnis zwischen Person und Gesellschaft waren die Folgen.

Fortschritt, ein Schlüsselbegriff der Moderne, war bis in das 20. Jahrhundert hinein positiv besetzt. Die Weltkriege, die nationalsozialistische und die stalinistische Diktatur, das Elend in der Dritten Welt und die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen durch Technik und Industrie haben dem alten Fortschrittsglauben den Boden entzogen. Die Theorie der Postmoderne ist jedoch nicht aus einer Globalkritik an der Moderne erwachsen. Postmoderne Wissenschaftler (wie [Michel] Foucault, [Jean-Francois] Lyotard, [Jean] Baudrillard) begründen ihre Theorie u. a. mit folgenden Beobachtungen und Erfahrungen: Die durch (elektronische) Kommunikationsnetze global wirkende Medien- und Werbeindustrie habe dazu geführt, daß "Kultur" (z. B. Theater, Konzerte) sich von der sozialen Lebenswelt immer mehr ablöst und den Menschen nur noch in Form vielfältiger Reproduktion [(vgl. auch Walter Benjamin, "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit") in den Medien begegnet; Glieder des Gemeinwesens hätten immer seltener Gelegenheit, sich außerhalb ihrer Bezugsgruppe im Blick auf eine gemeinsame Vergangenheit oder Zukunft zu verständigen; verbunden damit sei ein zunehmender Verlust der auf gemeinsame, aktive Erfahrungen angewiesenen Fähigkeit zur direkten Kommunikation. Die Folge sei wachsende Orientierungslosigkeit. Die diffuse Vielfalt, Widersprüchlichkeit, Beliebigkeit höbe die Bedingungen für die Möglichkeit auf, daß sich die Menschen in Begegnungen mit anderen zur Person entwickeln könnten, die zunehmende Virtualität der Neuen Medien erlaube es nicht mehr, Wirklichkeit und Diktion zu unterscheiden.

So sprechen die postmodernen Philosophen vom "dezentrierten Subjekt" (seiner Mitte verlustig gegangen), ja von seinem "Ende" - und damit dem Abschied von einer Leitvorstellung der Moderne, der sich auch im - vermuteten? - "Ende der großen Erzählung" (J. F. Lyotard, "Das postmoderne Wissen") abzeichne.

Die Analyse, wenn auch nicht alle ihre Konsequenzen, wird von zahlreichen Zeitdiagnostikern geteilt. Sie läßt sich schon aus der "Dialektik der Aufklärung" (Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, 1945) herauslesen. Der fundamentale Unterschied liegt jedoch darin, daß die postmodernen Theorien die Auflösung bisheriger Bedingungen als eine Chance gesehen wird: zu individueller Differenzierung, zur Entfaltung unterschiedlicher Identitäten, zur "Selbsterfindung" des Menschen, unabhängig von Normen und Erwartungen der Gesellschaft.

Hier setzt in der Nachfolge von Kant und Hegel - die Kritik der an den Traditionen der Moderne orientierten Philosophie an; es sei notwendig und möglich, das "unvollendete Geschäft der Aufklärung", die "Rekonstruktion des alteuropäischen Erbes" fortzuführen (vgl. Jürgen Habermas, "Moral und Sittlichkeit"). Demgemäß sind individuelle Entfaltung und Selbstverwirklichung angewiesen auf eine Anerkennung anderer, die nicht mit Zustimmung zu verwechseln ist. Sie stellt sich vielmehr her in Auseinandersetzungen um die Zustimmungswürdigkeit von Argumenten, wobei das Andere und der Andere geduldet werden; sie beruht auf dem Bestand gemeinsamer Werte, die sich auf die Achtung vor der Person der anderen gründet. Hilfe bei dem Bemühen, zu sich selbst zu kommen, kann der Mensch nur in etwas finden, was er selbst nicht ist.

In diesem Sinne war in den 80er Jahren von Philosophen und Sozialwissenschaftlern unterschiedlicher Richtungen von der "Unvermeidbarkeit ethischer Reflexion" gesprochen worden, weil Sinn und Ziele politischen Tuns politisch allein nicht ausreichend zu begründen seien.

So gesehen, stellt sich die Postmoderne allein in ihrem Beharren auf Beliebigkeit - auch der Werte - als eine apolitische Theorie heraus: Wie sollen die zur Selbsterfindung gelangten Einzelnen angesichts der Überlebensprobleme der Gegenwart und der Zukunft zu gemeinsamem politischen Handeln gelangen? Und wozu noch der Kampf für gerechte und gegen ungerechte Verhältnisse, wenn keine Maßstäbe mehr gelten sollen? Andererseits kann postmoderne Theorie dazu beitragen zu erkennen, was am Geschäft der Moderne unvollendet geblieben ist.

Hilligen, Wolfgang: Postmoderne. Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik. Hg. v. Hanno Drechsler. Wolfgang Hilligen, Franz Neumann. 9., neubearb. u. erw. A. München: Vahlen, 1995. S. 649-651.

Buch bei amazon.de bestellen

zurück
Zurück zur Homepage